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Montag, 7. Juni 2021

Erzählungen aus dem Mhahghvhrebh

Da flossen nach den vierzig (anderen Berichten nach hundertfünfzig) Tagen der Sintflut allmählich wieder die Wasser ab. Und rissen riesige Schluchten und Flußtäler und solche, die keine Flüsse mehr enthalten würden, und hinterließen gewaltige Berge und Geschiebe an Schutt und Geröllablagerungen.

Als die Menschen der drei Stämme, die aus den Söhnen Noes - Sem, Cham und Japhet - entstanden waren, dem Auftrag Gottes gemäß - und es wäre ihnen am Anfang nicht im Traum eingefallen, Gottes Wort NICHT zu befolgen, hatten sie doch alle noch eine Erfahrung mit diesem Gott in den Knochen stecken, in der dieser die ganze Welt ersäufen konnte, wenn er wollte, als also die Menschen auszogen, sich niederließen mit den Mitteln, die sie noch hatten und ihr Wirtschaften wieder begannen, sich daneben (diesen Auftrag erfüllten sie natürlich alle recht gerne) auch noch kräftig vermehrten, da begann es wieder menschlich zu werden überall. Zwischen herumstehenden Pyramiden und alten Steinen, die niemandem mehr etwas sagten, weil sie auch in nun so ganz fremden Gebieten standen, von denen sich kein einziger Mensch mehr erhalten hatte, der noch erzählen hätte können, was sich da genau zugetragen hatte. 

Und wie es vor den großen Wassern ausgesehen hatte auf der Erde, die nun so völlig anders geworden war. Wo sich vieles Zuunterste nach Zuoberst, und umgekehrt - gewendet hatte, als diese unvorstellbaren Gewichte, die das auf ihnen liegende Wasser bedeutete, wieder fortgingen, und manches nun, entlastet, nach oben schoß.

Die Menschen sind halt furchtbar neugierig, und wollen wir sie dafür nicht so ganz schelten. Denn es ist schon was Göttliches an ihnen, wenn sie so alles wissen wollen, haben sie doch im Wissen Gemeinschaft mit dem Gott, der das Wissen ist! 

So gab es bald überall wieder Menschen, weil sie die Erde bevölkerten, wie aufgetragen. Und sie handelten und wanderten herum, um ihre Verwandten zu besuchen, und diese wieder ihre Freunde, noch einmal fünfzig Kilometer weiter, und so breitete sich schneller, als wir es uns vorstellen können, die wir doch so töricht glauben, daß es nur mit dem Internet und einem Handy in der Hand schnelle Information gibt. Ha, da muß der Erzähler doch kräftig lachen. Kennt der Leser denn nicht Gerüchte? Verleumdungen? Schlimme Nachrichten, noch ein wenig erhitzt durch den Neid? Sieht er: Gerüchte haben sich immer schon mit der Geschwindigkeit des Windes verbreitet, des kann der Leser sicher sein.

Wenn man sich aber nun so trifft, dann gibt es eines, das alle Menschen tun. Nicht nur, weil es auf dem Marsch durch die Wüste, oder über die Einöden, die Gebirge, die Täler so anstrengend gewesen ist, so manche Gefahr zu bestehen war, oder weil der Schachl vom Ort jenseits des Gebirges einen ums Ohr gehauen hatte, sodaß man warnen konnte*, sondern auch weil ein so richtiges Miteinander erst entsteht, wenn man sich etwas erzählt, und im Erzählen gewissermaßen eine Welt vor sich entstehen läßt. Die dann mit geheimnisvollen Armen alle umschließt, die von diesem einen Ding, von dem da die Rede ist, etwas wissen oder nur etwas hören wollen. 

Na und so entstand als Erzählung natürlich auch ein Bild von dem, was sie alle über die Erde herausgefunden hatten. Über ihre Gestalt, und wie weit sie ist, oder wie nah, wie hoch und wie tief, halt einfach über alles, wie und was DIE WELT IST. 

Und wer nicht sagte, was er auch gesehen, gehört, gefühlt, geschmeckt oder gerochen hatte, dem glaubte man nicht, was er da über die Welt sagte. Denn das mußte er erfunden haben, was niemand nachprüfen konnte. Damit haben sie eigenartigerweise auch genau das gemacht, was wir heute Wissenschaft nennen. Und sie haben sich schon damals, vor ein paar tausend Jahren sogar schon, mit allen möglichen Titeln angeredet, wie "Lehrer", "Meister", oder "Ehrwürdiger Herr", oder "altehrwürdige Frau Mutter", und wie man sich eben so anredet unter höflichen Menschen. Die genug Bildung haben, sich anständig zu benehmen, und den anderen so zu behandeln, wie es sich eben gehört.

Die Menschen haben also zu allen Zeiten etwas ganz selbstverständlich gemacht (und noch heute arbeitet jeder Provinzwissenschaftler nach genau dieser Methode) was wir heute "evidenzbasiert arbeiten" nennen. Sie sind zu allen Zeiten und an allen Orten von den sinnlichen Eindrücken ausgegangen, um festzustellen, wie denn etwas IST. 

Und so entstand auch eine Erzählung über die Enden Erde, wie denn auch nicht. Was kann spannender sein? Und so hat man sich erzählt, was man gesehen oder auch nur gehört hatte, von Leuten, DIE es dann gesehen haben, oder die zumindest von jemandem gehört hatten, DER es dann gesehen hatte, wie sie denn sei, die Erde, und wie ihre Enden aussähen, also die Gegend dort, wo sie aus ist. 

Naja, und das war rasch erzählt. Denn daß die Erde flach ist, ist jedem einsichtig, der kein Dummkopf ist. Damals, als die Wasser sich über lange Jahre erst von der Erde zurückzogen, war die Erde ja nicht einmal gar so groß, wie sie es heute ist. Und rundherum, was war da? Na was denn sonst als - Wasser. 

Und so entstand also das, was man Weltbild nennt. Daß die Erde eine runde Scheibe ist, die auf einem Meer schwimmt. So konnte es jeder sehen. An den Enden des Landes war das Wasser. Und dort, wo es aufhörte? Da konnte niemand hin. Denn da würde er sicher sterben! Wo sollte er sich Nahrung und Trinkwasser besorgen, und mit welchem Ziel sollte er da überhaupt hinausfahren? Ins Nichts, von dem noch keiner zurückgekommen war, weil niemand sagen konnte, wie es dort aussah.  

        P. Jensen "Das Weltbild der Babylonier" (1890)
Aber die Welt wurde halt immer größer, und so sah man, daß sie sich wölbte. Denn das sieht und merkt man nur aus ganz großen Distanzen. Es ist deshalb recht interessant, daß das Weltbild der Babylonier, das ein bißchen später als andere entstanden sein dürfte, die Welt nicht so ganz flach zeigt. Sondern durchaus ein bißchen wie einen Hügel, wie einen Maulwurfshügel gesehen habe. Da waren die Wasser schon weiter zurückgegangen, und die Welt wurde immer größer und größer. Aber immer noch war an ihrem Ende - Wasser.

Das mit der Kugel kam dann viel viel später. Als es manchen schon aufgefallen war, daß da irgendwie "kein Ende" schien, mit dieser Welt, und daß die nirgendwo aufhörte. Und so kamen andere drauf, mal darüber nachzudenken was denn wäre, wenn die Erde eine Kugel wäre.

Daß freilich die Menschen einmal so dumm werden würden, über die Vorfahren zu lachen, die die Erde "wie eine Scheibe" gesehen hatten, weil sie genau das getan hatten, wovon die dummen Menschen behaupten, daß es alleine Gewißheit brächte - nämlich die Evidenz, das eigene Sehen und Hören und Fühlen und so weiter - das hätte niemand für möglich gehalten. Denn die Alten, die wußten sehr bald, daß es da einen Haken hatte, mit dieser Evidenz, mit diesem eigenen Hören und Fühlen und so weiter. Und daß es eine ganz andere Weise und Art gab zu erfahren, wie denn die Welt so ist - nämlich das Nachdenken, und das Vergleichen, und das Abstrahieren, sodaß ein Gedanke wie ein Kern in viele viele Hüllen paßt. 

Frage der Leser einmal einen dieser Lächler, wieviel von dem, was er so über die Welt glaubt, er aus eigener Erfahrung weiß. Und wieviel davon er einfach nur gehört hat. Und dann fragen Sie ihn wie er auf die Idee kommt, das als "richtig" anzunehmen. 

Und dann fragen Sie ihn, ob er auch weiß, was die Alten nach und nach herausgefunden haben. Daß nämlich zwischen Offenbarung, also dem Hören von Aussagen, die wahr sein sollen, und Evidenz der eigenen Gefühle noch ein Zwischending steckt. Das eben im Abstrakten Ableitungen bilden kann, und dann wie mit einem geheimen Schlüssel prüfen kann, ob das eine wie das andere überhaupt stimmen können, plausibel sind. Wie man diesen Schlüssel nennt? Ach lieber Leser, er wird doch sicher schon einmal etwas von Vernunft gehört haben?

Sie ist ein Vogel, mit Federn aus Gold und Purpur, mit dem Glanz der prächtigsten Geschmeide, und dem Duft süßesten Rosenholzes. Der nie zu zwingen ist, um den zu mühen sich aber täglich neu lohnt, denn er macht den Atem frei und den Blick hell. Wir können ihren Willen nicht zwingen, aber wir können eines ganz sicher: Wir können sie jederzeit fernhalten. Wir verdanken ihr ihr Dasein, ihre Stimme, mit der sie unsere Brust tönen läßt, aber unserem Willen unterliegt nur, sie zu vertreiben.

W. Ambrosius, Aus "Erzählungen aus dem Mhahghvhrebh, und anderen orientalischen Landstrichen"


*290521*