Es ist die Frage zu stellen, ob es für einen Schauspieler nicht besser wäre, sich nicht über eine der herkömmlichen Schauspielschulen "ausbilden" zu lassen.
Erstens ist ja der einzige Vorteil, den eine solche "Ausbildung" bietet, die intensive Beschäftigung mit Schauspiel verbunden mit der Intensität der Rückmeldung. Der Effekt einer rascheren Reifung ist aber in höchstem Maß von der Qualität der Lehrer abhängig, die Gefahr einer Verbildung ist immerhin nicht gering. Zumal ja übersehen wird, daß man Schauspiel nicht lehren kann. Das einzige, was gelernt werden kann, sind Kulturtechniken, sind also Prozesse, die ansonsten das Leben übernimmt. Einer ähnlichen Auffassung war übrigens Max Reinhardt, dessen Ideal einer Schauspielerexistenz der ständige Wechsel zwischen einem halben Jahr Bühne und einem halben Jahr "Leben da draußen" gewesen war.
Zweitens und wichtigstens aber ist, daß das größte Problem der Schauspieler (heute) das Problem der Identitätsbildung ist. Gerade aus großen Schulen mit renommiertem Namen kommende Schauspieler sind oft extrem davon geprägt, eine äußerst feste Identität "als Schauspieler", und damit als Figur innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges, aufzuweisen. Sie tragen also ein ausgeprägtes "Selbstbewußtsein" als Absolvent jener Institution, und noch mehr: als Schauspieler vor sich her.
Ich frage mich aber, ob es nicht für einen Schauspieler - als Künstler verstanden - nötig ist, sich zutiefst existentiell in Frage gestellt zu sehen. Ob es nicht nötig ist, diese Nacht des Nichts-seins wirklich durchleben zu lassen. Um so stets mit ganzer Ungeprägtheit und Bereitschaft die Inhalte der zu spielenden Rollen zu suchen wie zu sehen, wie ein Ertrinkender nach dem Rettungsring zu greifen.
Immerhin ist mir aufgefallen, daß Schauspieler nach Engagementpausen, nach Phasen, in denen sie nicht gefragt waren, faktisch immer einen Reifeschub aufwiesen. Ja, erst dadurch zu reifen schienen, diesem Nichts ausgeliefert gewesen zu sein.
*040408*