Noch bis in den frühen Morgen hinein analysierten wir das Gesehene, und nach und nach wurde uns klar, was der dramaturgische Strang gewesen wäre, den freilich schon der Autor nicht richtig erfaßt und herausgearbeitet hatte, ging man nach der vorliegenden Fassung. Das Stück hatte nämlich Schwächen, gewiß. Aber die waren korrigierbar und wer weiß: vielleicht nur über die Jahrhunderte seit der Abfassung des Textes so herabgekommen.
Aber der Regisseur hatte ein Stück daraus geflochten, das diesen Namen gar nicht mehr verdiente: Und das niemandem mehr - am wenigsten dem Publikum - klar gewesen war. Die Antwort auf die Frage, warum der Autor es hätte verfassen sollen, war einfach nicht beantwortbar, außer in der Absonderung von ein paar persönlichen Bosartigkeiten, wo er diesen und jenen etwas auswischen hatte wollen.
So aber hatten die Schauspieler, in völliger Unkenntnis dessen bleibend, was, welche Figur, in welcher Situation sie eigentlich spielen hätten sollen, sich einer Probenzeit gegenüber gesehen, in der sie wie hölzerne Marionetten von einer Bewegung zur anderen regelrecht gestellt wurden. Was dann von Vorstellung zu Vorstellung die Inszenierung noch mehr auseinanderfallen ließ, weil sich zwischen den Figuren logischerweise nichts entwickelte, nur die inhomogenen einzelnen Komponenten noch stärker, betonter und für sich stehender wurden.
Weil der Regisseur aber von allem Anfang an "Bilder" inszeniert sehen hatte wollen, mußte er in vollem Bewußtsein gehandelt haben ein Stück zu inszenieren, dessen Handlung und dessen innerer Kern, dessentwegen überhaupt eine Dramaturgie entwickelt wurde, der in der Katharsis freigebrannt hätte werden sollen.
Uns aber ließ die Frage keine Ruhe mehr ... die vielfache und laute Frage nach all den "Warums?" So entwickelten wir aus dem vorhandenen Material einen dramaturgischen Plot, ja ein Stück, von dem wir nicht nur begeistert, sondern überzeugt waren, daß der Autor es so ursprünglich gewollt haben mußte. Dabei hatten wir nichts getan als die Dinge neu zu gruppieren und zu gewichten, und nur ganz wenige Sätze mußten eingefügt werden, in der Mehrzahl einfach, um eine dramaturgische Intention zu verdeutlichen.
Bei einer der nächsten Vorstellungen - gestern - überprüfte L. die Hypothese, legte die neue Folie darüber ... und erlebte nahezu ein Wunder: zwar fehlte wie gesagt dies und das an Kleinigkeit, weil die sinnlose Inszenierung chaotisch war, zwar war also auch die Gewichtung der Szenen zu korrigieren, eben der Ordnung der Aussage entsprechend, die wir herausgeschält hatten, aber ... es hätte perfekt funktioniert! Es hätte ein großartiger Theaterabend werden können, mit allen Voraussetzungen zu einer wirklichen, tiefen und bewegenden, dabei höchst aktuellen Tragödie.
So war es eine Tragödie des Theaters geworden, bestenfalls zu einem Spiel inszenatorischer Möglichkeiten - wenn man nicht unterstellen wollte, daß ein unbewußter böser Geist demonstrieren hatte wollen, wie dumm das Publikum bereits geworden ist, das einer Sache applaudiert, die gar keinen Sinn mehr ergibt, also gar nicht "gelingen" KANN ... Der Regisseur hatte in jedem Fall seine Arbeit nicht getan, er war überfordert.
Aber es war ja vermutlich nur um die Aufgabe gegangen, ein Produktionsbudget zu verheizen; das Theater mußte eine nächste Produktion bieten, und die Schauspieler mußten verdienen um ihre Mieten zu bezahlen.
Das ist Theater heute.
*140408*