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Donnerstag, 10. April 2008

Vom Blick für Kunst

"Die Sehform der zahlenmäßig Meisten ist etwas wesentlich anderes als der am weitesten verbreitete Geschmack. ... Sehen bedeutet für uns heute allzu rasch: sich etwas in der Form eines Kunstwerks vorstellen. Diese Art Vorstellung ist ohne Stil nicht möglich, von den byzantinischen Mosaiken bis zum Film von heute.

Die gewöhnliche Sehweise ist jedoch von anderer Art. Der Jäger sieht den Wald nicht so wie ein Maler: er weiß von der Sehform des Letzteren so wenig wie dieser vom Anstand des Jägers. Klarinetten zu drechseln bedeutet keine spezielle Form, Musik zu hören ... doch obgleich zwischen Dschunken und hornförmig geschwungenen Häusern eine gewisse Verwandtschaft besteht, sieht eine chinesischer Fischer, der von Malerei nichts weiß, die Zeichnung der Wellen doch nicht im Dschunkenstil, sondern als Fischer, - und das heißt: ohne jeden Stil. Ist die Sehform jedes für Kunst irgendwie empfänglichen Menschen durch seine Beziehung zu Werken der Kunst bedingt, so die des kunstfremden Menschen durch dessen Tun oder Absichten.

In den Augen des letzteren sind die Dinge, was sie tatsächlich sind; in den Augen des Künstlers vor allem das, was sie in einem bevorrechteten Bereich, worin sie der Vergänglichkeit entzogen sind, werden können - dafür verlieren sie in diesem Bereich aber auch einen ihrer grundlegenden Charakterzüge: in der Malerei die wirkliche Tiefe, in der Plastik die wirkliche Bewegung. Der Maler reduziert auf ... Zweidimensionalität ... der Bildhauer ... auf ein Unbewegtes. Kunst die darstellen will, will gleichzeitig auch reduzieren ...

Kunst fängt bei der Reduktion überhaupt erst an. Man könnte sich zwar ohne weiteres ein plastisches, bemaltes, modellähnliches Stilleben vorstellen, doch niemals als Kunstwerk. Falsche Äpfel in falscher Obstschale sind noch keine echte Plastik. Damit Kunst entsteht, muß zwischen Mensch und dargestelltem Objekt eine Beziehung von anderer Natur walten, als sie die Außenwelt auferlegt. Deshalb ist die Farbe in der Plastik auch so selten eine Nachahmung der Wirklichkeit; deshalb empfindet jeder, daß ... Wachsfiguren ... nichts mit Kunst zu tun haben ...

Nichts wissen wir von dem, was die allgemeine Sehform im Altertum, ... im Mittelalter war. ... Dafür sehen wir aber, wie sich unsere Zeitgenossen aller Rassen umso besser mit der Photographie abfinden, je weniger sie von Kunst verstehen; wie sich der Film immer, wenn er erzählen will, alle Träume der Welt unterwirft. Der Unterschied zwischen dem Erlebnis des Künstlers und dem des Nicht-Künstlers liegt nicht in einer anderen Intensität, sondern ist wesensmäßig bedingt, weil die letztere sich in Handlungen manifestiert, während die des Künstlers sich nur durch eine Reduktion manifestieren kann. Selbst für den armseligsten Maler besteht die Welt noch aus Bildern.

Ein Künstler muß nicht unbedingt stärkerer Empfindungen fähig sein als ein Kunstliebhaber, ist es oft weniger als ein junges Mädchen: er ist es nur auf eine andere Art. Lebhafte Phantasie macht noch keinen Romanschriftsteller, Neigung zu betrachtender Versenkung noch keinen Dichter, und niemals waren die größten Künstler Frauen. Wie ein Musiker die Musik und nicht die Nachtigallen liebt, ein Dichter Verse und keine Sonnenuntergänge, so ist ein Maler kein besonderer Liebhaber von Figuren und Landschaften, sondern ein Mensch, dem es zunächst um Bilder geht.

... Die Abneigung der großen Masse gegen moderne Kunst ist zweifellos zum guten Teil durch Unwissenheit bedingt; aber auch durch die Wut gegen etwas, das diese Masse irgendwie dunkel als Verrat empfindet. Die Mehrzahl der Menschen ahnt, daß es jenseits der Abbilder, deren Verführung sie unterliegt, große Kunst gibt; doch können sie sich diese nur als religiös vorstellen, ob nun als Ausdruck einer Religion der Revolution oder des Sieges. Wahr ist dabei, daß alle ganz große Kunst Ausdruck einer aus dem heiligen geborenen Gemütsbewegung ist; falsch dagegen, daß dieser Ausdruck die ihn erzeugende Bewegung auch wirklich zur Darstellung bringt. ... Hält der Künstler einmal wirklich einen als besonders bedeutsam empfundenen Augenblick fest, so nicht, weil er ihn reproduziert, sondern weil er ihn durch Reduktion verwandelt hat. ... deshalb ist ein schönes Portrait nicht in erster Linie Wiedergabe eines schönen Gesichts ...

Der Nichtkünstler hat von der Sehweise des Malers verschiedenartige Vorstellungen: einmal hält er sie wohl für schärfer ausgeprägt als seine eigene und deshalb für fähig, sich ihm aufzuzwingen (so faßt er die des Impressionismus und der Japaner auf); ein andermal sieht er sie als Vermögen, ein für besonders bedeutend erachtetes Gesehenes aus seinen Zusammenhängen zu lösen; die Kunst hätte es dann mit photographischer Genauigkeit zu reproduzieren; dann wieder sieht er diese Sehweise in Verbindung mit einer idealisierenden Phantasie. Diese drei Auffassungen sind aus der Funktion entstanden, die dem Künstler von der Renaissance bis zum Impressionismus zugewiesen war. Insofern mittelalterliche Kunst ein System von Form ist, werden ihr diese Auffassungen ebenso wenig gerecht wie der Neger- oder Mayakunst; daß einige gotische Statuen in unsere Wandkalender eindringen konnten, liegt weniger daran, daß man sie als Formsystem denn daß man sie als Gefühlsausdruck akzeptiert hat ...." 


André Malraux



*100408*