Als Leibniz vom Hannoveraner Welfen-Herzog Ernst August den Auftrag erhielt, die wahre Herkunft der Welfen zu erforschen, gab es in Europa defacto keine Geschichtswissenschaft. Wozu auch? Bis dato hatte allen genügt, aus einem Geflecht von Legenden, Mythen und Wunschvorstellungen heraus die Vergangenheit zu "kennen" - als Zerrbild gegenwärtiger Vorstellungen und Nutzanwendungen. Nutzanwendungen, wie sie Ludwig XIV. austüftelte, der anhand verschiedenster und oft genug obskurster "historischer" Fakten daranging, die rechtsrheinischen Gebiete Deutschlands eines nach dem anderen für sich zu beanspruchen.
In Italien fand Leibniz die Herkunftszeugnisse der Welfen - und sie stammten tatsächlich vom legendären Azos von Este ab, dessen Grabstein aus dem 8. Jahrhundert stammt.
So nebenher aber legte Leibniz in seinem Nachforschen der europäischen Geschichtswissenschaft den Grundstein. Indem er dieser erstmals eine Grundlage, eine Definition gab, nach der sie sich hinkünftig ausrichtete. Leibniz, 1690 endlich zum Reichsfreiherr Gottfried Wilhelm von Leibniz geadelt, definierte Geschichte "als die Betrachtung vergangener Weltenläufe und ihrer Stufenfolgen unter dem Kriterium einer Idee." Ob es sich um die Idee des Guten, der Macht, des Fortschritts, der zunehmenden Gottesnähe oder was auch immer handelte. "Geschichte ist Prüfstein des Erreichten, ist Richtungspfeil des Zukünftigen, das eine Extrapolation aus dem Gesetz der Gegenwart in die kommende Zeit zu sein scheint."
Niemals dürfe Geschichte ein Phantom sein, das sich eine zweckwollende Gegenwart unabhängig von wirklich beglaubigter Vergangenheit gewissenlos und wahrheitsfremd zurechtstutze. "Das verstehe ich unter jenem TESTIMONIIS NITENDUM ESSE, jener Forderung, daß nur beglaubigte Quellen als Stütze wahrer Geschichtsdurchdringung dienen dürfen."
*070408*