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Freitag, 4. Oktober 2013

Jeder in seinem Stand

Als Hildegard von Bingen gefragt wurde, warum sie nur Hochwohl- und Edelgeborene in ihr Kloster aufnehme, wo Christus selbst doch Fischer, wenig Begüterte und Arme auserwählt habe, antwortete die Heilige: 

"Gott achtet bei jedem Menschen darauf, daß sich der niedere Stand nicht über den höheren erhebe, wie es einst Satan und der erste Mensch getan, die über ihren Stand hinausfliegen wollten. Und wer steckt all sein Viehzeug zusammen in einen Stall: Rinder, Esel, Schafe, Böcke? Da käme alles übel durcheinander. 

So ist auch darauf zu achten, daß nicht alles Volk in eine Herde zusammengeworfen werde. Es würde sonst eine böse Sittenverwilderung einreißen, da man sich im gegenseitigen Hasse zerfleischen würde, wenn der höhere Stand zum niedrigen herabgewürdigt und dieser zum höheren aufsteigen würde. 

Gott teilt sein Volk auf Erden in verschiedene Stände, wie die Engel im Himmel in verschiedene Gruppen geordnet sind, in die einfachen Engel und die Erzengel, die Cherubim und Seraphim. Und Gott liebt sie alle."

Es geht nicht um den Stand, sondern um die Sittlichkeit innerhalb der jeweiligen Stände. Und das geht nur, wenn jeder Stand die ihm auferlegten Pflichten erledigt. Unzufriedenheit mit dem eigenen Stand ist, so Bingen, die Sünde Luzifers in Verbindung mit dem Hochmut und Ungehorsam Adams. Die Geburt legt fest, welche Aufgabe dem Menschen aufgegeben ist.

Johannes Bühler schreibt dazu in seiner "Kultur des Mittelalters", daß anders als wir uns heute vorstellen, denen solche Anschauungen fremd scheinen, diese schier unveränderliche Standeszugehörigkeit aber der Entwicklung der Individuen keineswegs geschadet, sondern sie im Gegenteil größtenteils wenigstens günstig unterstützt hat. Denn jeder wußte sich damit in seinem Stand auch geborgen und sicher, Konkurrenz und Neid gab es kaum, ein Standesgenosse gab dem anderen Rückhalt. Stand und Beruf, ererbter Immobilienbesitz oder Zunftzugehörigkeit etwa zogen klare Grenzen der seelischen Entwicklung, steckten aber auch die Ziele. Die aufblühende Volkskultur des Mittelalters war eine Frucht dieser ständischen Ordnung.

Auch stimmt nicht, daß diese ständische Ordnung eine Erfindung des Mittelalters war. Ausgehend von den Bauern, ist diese Ordnung vielmehr ein Erbe der späten Römer. Wo etwa im 2. Jhd. die feste Verbindung der Landbevölkerung an die Scholle eingeführt wurde. An die aus diesem Erbe heraus auch im Mittelalter noch nicht nur die Bauern, sondern gleichermaßen die Grundherren hier, oder die Pächter dort gebunden waren. Latifundien-, Großgrundbesitzer wurden nämlich dem Staat abgaben- und wehrdienstpflichtig, mußten also Steuern und Soldaten bereitstellen. Was ihnen das Recht gab, von ihren Bauern Pacht und Frondienste einzuverlangen.

So wurden schon den Römern Gutsbezirke zu Verwaltungsbezirken (bzw. überlagerten letzere erstere, denn Herrschaft und Gutsbesitz entwickelten sich keineswegs eines aus dem anderen, sondern parallel, wie etwa Georg von Below in "Territorium und Stadt" aufzeigt.) Auch festigte (insbesonders nach dem Ende der territorialen Expansion des Römischen Reiches, wodurch es keine Beute mehr als Lohn gab) die steigende Verschuldung der Kolonen (der eigentlichen Bauern) diese Aneinandergeschweißtheit von Mensch und Boden. Sei es, weil die Bauern ihr Land nicht mehr verlassen KONNTEN, oder verlassen MUSZTEN - der Grund für die Entstehung des städtischen Proletariats. Die Entwicklung der sozialen Schichtungen der Landbevölkerung bei den Germanenstämmen (die wie die Römer Ackerbauvölker waren - unsere gesamten Halmfrüchte gehen auf sie zurück) muß im Grunde genau so verlaufen sein. Allerdings mit regional sehr unterschiedlicher Ausprägung, speziell im Übergang von den Römern. Die Tiroler Bauern etwa waren immer (bis in die Gegenwart) "frei", was für ihr Stammland Bayern keineswegs ungeteilt galt, und die französisch-fränkische Landbevölkerung überhaupt von den Anfängen des Merowingerreiches an unfrei und abhängig war.




*041013*