Daß sich die Renaissance vielfach nicht als Kunst des Volkes durchsetzte, hat einen sehr bestimmten Grund. Und dieser liegt ... in England und Irland. Warum? Auch dafür hat Henri Pirenne eine interessante Tatsachenlogik aufgebaut.
In den Wirren der spätantiken Zeit, der in den Völkerwanderungen eine bereits norme innere Schwäche - ihre Antike wurde mehr und mehr zum bloßen (leeren, formalistischen) Epigonentum - entsprach, sank das einst im gesamten Mittelmeerraum lebendige gesprochene Latein in den Wirren des 6.-8. Jhds. zu einer simplifiziert verschliffenen Banalsprache herab. Und nahm mehr und mehr lokale Eigenheiten an. Die uns heute bekannten Sprachen - Spanisch, Italienisch, Französisch - wurden in zahlreichen Lokaldialekten grundgelegt. Der Gebildetenstand der Patrizier verschwand, der das antike Latein noch gepflegt hatte, die Gründe und Zusammenhänge haben wir hier bereits dargelegt. Niemand konnte mehr lesen und schreiben, später nicht einmal Karl der Große. Man sprach ein arg verschliffenes Latein, das nur noch an die Grammatik der Wurzelsprache erinnerte, sie schon sehr versimpelt hatte. Das alte Latein verstand bald niemand mehr.
Aber bereits im 6. Jhd. hatte Papst Gregor d. Große Missionare direkt von Rom aus nach Britannien geschickt, um dort zu missionieren. Die Insel war nie so romanisiert wie der Rest Europas, und somit hatte sich dort die germanische (bzw. gälische) Sprache als Volkssprache erhalten. Das Latein, das reine, korrekte Latein, war von Anfang an eine Kultsprache, eine Sprache des Heiligen, und der Gelehrten. Und das waren die Kleriker, nur sie konnten lesen und schreiben. Und von dorther also war es auch die Sprache der Wissenschaft. Die Renaissance ist eine Kunst (und Kultur) der antiken Bildung. Wie hätte das gemeine ungebildete Volk daran teilnehmen können, außer durch simple Nachahmung?
Karl der Große holte im 9. Jhd. britische Missionare aufs Festland zurück. Sie sollten die Germanen christianisieren, was sie auch erfolgreich taten. Weil aber auch keine Verwaltungsstrukturen mehr vorhanden waren, keine Gebildeten mehr (aber auch aus politischen Gründen, die hier zusammenspielten), bediente er sich gleichermaßen dieser Briten, um seine Verwaltung zu organisieren. Und die war in - Latein. In reinem Latein. (Wobei man nicht vergessen sollte, daß Karl das Germanische als Volkssprache schätzte, bewahren wollte, Volkslieder aufschreiben ließ, etc.) Die Missionare aber verwendeten nach wie vor das klassische Latein.
Aber mit diesem klassischen Latein kam auch die Antike wieder zurück, in der Sprache und im Wissen der literarisch Gebildeten, als Amtssprache, als Kirchensprache, und später und bis ins 19. Jhd. hinein als (abstakt-rationale und in einer seit der Antike ungebrochenen Denktradition gebliebene) Grundlage für die abendländischen Wissenschaften.
Was sich in der kleinen, der karolingischen Renaissance im 9. Jhd. zeigte stammt also aus England. Und es hat entscheidende Weichen für Europa gestellt. In ihr spaltete sich das Geistesleben des Volkes von dem der Elite, das Volk konnte die Antikenliebe der Elite, ihren Geist nicht nachvollziehen. Besonders im Alpenraum zeigt sich das sehr deutlich, wo nur der Adel eine Renaissance kannte, das Volk lehnte sie ab.
Gleichzeitig erklärt sich, daß in Italien, dem klassischen Latein sicher noch am nächsten geblieben, die Renaissance auch in die bürgerliche Sphäre weit vorgedrungen ist. (Im griechischen Süden ohnehin wieder nicht.) Desgleichen etwa in Ländern wie Ungarn, wo sich Ungarisch aus historischen Gründen (durch Tataren und Türken immer wieder starke Dezimierung der einheimischen Bevölkerung; das heutige Ungarisch begann sich erst im 19. Jhd. zu entfalten, bis 1850 (!) das Latein als Amtssprache, als einzige landesweit gesprochene Sprache abgeschafft wurde; dazu die jahrhundertelange Fremdherrschaft) lange nicht als Landessprache tauglich zeigte. In Ungarn haben auch die vielen nicht-ungarischen Bürger (in der charakterlichen Spezifik der Bodenlosigkeit, der virtuellen Heimatlichkeit) den Geist der Renaissance aufgesogen und zum Ausdruck gebracht. Vermutlich liegt der Fall in der Tschechei ähnlich, auch dort spielte das Slawische lange Zeit eine Nebenrolle, und gar keine in der Bildung. Daß sich dort der Protestantismus so markant und in Hus etwa aus sich heraus entfaltet hat, könnte in solchen (natürlich komplexen) Wirkverhältnissen begründet liegen.
Warum sich im arabischen Eroberungsraum ab dem 7. Jhd. die Naturwissenschaften aber so kräftig und deutlich früher als in Europa entwickelt haben? Die Araber hatten keine Scheu, die antiken Traditionen zu benützen, die sie reichlich vorfanden, wo sie ihnen nützlich schienen, und was ihnen gefiel. Auch in der Architektur. Noch heute wirkt jede Moschee wie eine Nachahmung der (einst katholischen) Hagia Sophia in Istambul.
Selbst Aristoteles wurde ins Arabische übersetzt (von wo er nach Europa zurückkam - über arabische und jüdische Übersetzungen.) Gleichzeitig spielte dort die Bildungselite eine wesentlich kräftigere Rolle als gesellschaftlicher Faktor, als in Europa. Denn die arabischen Gesellschaften waren "hydraulisch-managerial", also zentralistisch organisiert. Der Individualismus, der Dezentralismus Europas, der sich nach der Antike (und unter maßgeblichem Einwirken des Zusammenbruchs des Mittelmeerraumes als einheitlicher, antiker Kulturraum) entwickelt hat, machte dort ein Wirken der Bildungseliten wesentlich schwieriger. Was der Kalif in Bagdad befahl, geschah unmittelbar und überall, die Entwicklung des einfachen Volkes blieb überhaupt stehen. Die arabische Hochkultur war also sowieso eine reine Elitenkultur. Die europäischen Kaiser konnten sich vergleichsweise ja wenig durchsetzen.
Wieweit auch arabische Lebenskultur - über Spanien, welches Kalifat sich zu einer Art "Ketzerei" des Islam entwickelte - Europa prägte, darüber kann man streiten. Immerhin zeigt die maurische Kultur in Spanien deutlich mehr Eigenleben und auch Volksdurchdringung. Wieweit die Gotik nicht nur philosophisch (arabisch-jüdische Aristotelesausgaben kamen über Spanien) von dorther (oder von den Briten/Iren) inspiriert war ist Diskussionsstoff.
Selbst Aristoteles wurde ins Arabische übersetzt (von wo er nach Europa zurückkam - über arabische und jüdische Übersetzungen.) Gleichzeitig spielte dort die Bildungselite eine wesentlich kräftigere Rolle als gesellschaftlicher Faktor, als in Europa. Denn die arabischen Gesellschaften waren "hydraulisch-managerial", also zentralistisch organisiert. Der Individualismus, der Dezentralismus Europas, der sich nach der Antike (und unter maßgeblichem Einwirken des Zusammenbruchs des Mittelmeerraumes als einheitlicher, antiker Kulturraum) entwickelt hat, machte dort ein Wirken der Bildungseliten wesentlich schwieriger. Was der Kalif in Bagdad befahl, geschah unmittelbar und überall, die Entwicklung des einfachen Volkes blieb überhaupt stehen. Die arabische Hochkultur war also sowieso eine reine Elitenkultur. Die europäischen Kaiser konnten sich vergleichsweise ja wenig durchsetzen.
Wieweit auch arabische Lebenskultur - über Spanien, welches Kalifat sich zu einer Art "Ketzerei" des Islam entwickelte - Europa prägte, darüber kann man streiten. Immerhin zeigt die maurische Kultur in Spanien deutlich mehr Eigenleben und auch Volksdurchdringung. Wieweit die Gotik nicht nur philosophisch (arabisch-jüdische Aristotelesausgaben kamen über Spanien) von dorther (oder von den Briten/Iren) inspiriert war ist Diskussionsstoff.
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