Der Soziologe Helmut Schelsky weist in seinen Untersuchungen über die Soziologie der Bundesrepublik Deutschland - "auf der Suche nach Wirklichkeit" - darauf hin, daß sich seit geraumer Zeit eine zunehmende Kluft zwischen den Modellen der Ideologien und Welterklärungssystemen und der erfahrbaren Realität der Menschen auftut. Nunmehr gibt es aber eine klare Interessensgruppe, die an der Aufrechterhaltung dieser Erklärungsmodelle, die aus sozialen Wirklichkeiten kommen, die aber gar nicht mehr bestehen, interessiert sind - und das sind die Vertreter dieser Ideologien selber, namentlich die Intellektuellen. Sie vermögen den Bruch zwischen Welterklärung und individueller Welterfahrung nicht mehr zu kitten, und damit treiben sie den Einzelnen in den Zwiespalt völliger Selbstentfremdung, auf den er langfristig nur mit Rückzug auf ganz enge, persönliche Erfahrungsfelder reagieren kann.
Selbst die Schule wurde und wird zunehmend mehr dazu instrumentalisiert, diese Spaltung aufrechtzuhalten. Umso mehr, als sich zwangsläufig mit der Zeit Frustration einstellt, weil die Welterklärungsmodelle mit den alltäglichen Lebenserfahrungen nicht in eins fallen, nicht reichen. Daraus erwächst das Drängen der Vertreter dieser Ideologien, immer intensiver, immer früher mit dieser Indoktrinierung fortzufahren. Denn für sie - aber nur für sie - geht es um etwas: Um Macht und Einfluß (der selbst wieder irreal ist).
Das führt zum schleichenden, aber heute tief manifesten Realitätsverlust der Menschen. Sie sehen sich mit Sollensbildern und daraus erwachsenden Moralsystemen konfrontiert, die nicht von ihrer Lebenserfahrung gedeckt sind. Die Menschen denken in abstrakten Systemfiguren, die aber nicht von ihrer Erfahrung gedeckt und durchwest sind.
Im besonderen werden soziologische Gesellschaftsmodelle propagiert, die Schichtungen und Ordnungen vertreten, die in Wirklichkeit gar nicht (mehr) gegeben sind. Die aus Zeiten einer bürgerlich-proletarischen Gesellschaft stammen, die es gar nicht mehr gibt. Denn die reale Lebensweise und -führung der Menschen heute ist nahezu gleich, und zwar quer durch alle (früheren) Schichten. Unsere Gesellschaften haben sich zu einer Art "lower middle class" uniformiert. Die früheren Klassenspannungen, wie sie im 19. Jhd. sehr real waren, existieren gar nicht mehr. Wir leben in einem Gesellschaftsklima von Mythen, die uns den Blick auf die Wirklichkeiten verstellen.
Die Menschen erleben die "offizielle Wirklichkeit" als von ihnen und ihrer persönlichen Erfahrungswelt getrennt. Sodaß ihnen nur zwei Wege bleiben: Völliger Rückzug in ihre privaten sozialen Räume, oder engste Verhaftung mit dieser ihnen eigentlich fremden geistigen Welt.
Damit ist auch der Verlust der Bedeutung der Philosophie nachvollziehbar. Denn ursprünglich galt als gebildet der, der seine persönlichen Erfahrungen - und von dort ausgehend - in die Ordnung einer geistigen Ordnung einfügen konnte. Bildung war gleichbedeutend mit der Fähigkeit zum Philosophieren, ja war diese Fähigkeit zur Selbst(!)abstraktion selbst. Und nicht quantitatives oder funktionales "Wissen".
Heute ist das nahezu umgekehrt: Heute gilt als gebildet, dessen persönliche Erfahrungen in seinem Denken überhaupt keine Rolle spielen, der bereit ist, in diesen fremden Systemen zu denken, anstatt von seiner Lebenserfahrung, wie eng oder weit die auch sein möge, auszugehen.
Die Menschen erleben die "offizielle Wirklichkeit" als von ihnen und ihrer persönlichen Erfahrungswelt getrennt. Sodaß ihnen nur zwei Wege bleiben: Völliger Rückzug in ihre privaten sozialen Räume, oder engste Verhaftung mit dieser ihnen eigentlich fremden geistigen Welt.
Damit ist auch der Verlust der Bedeutung der Philosophie nachvollziehbar. Denn ursprünglich galt als gebildet der, der seine persönlichen Erfahrungen - und von dort ausgehend - in die Ordnung einer geistigen Ordnung einfügen konnte. Bildung war gleichbedeutend mit der Fähigkeit zum Philosophieren, ja war diese Fähigkeit zur Selbst(!)abstraktion selbst. Und nicht quantitatives oder funktionales "Wissen".
Heute ist das nahezu umgekehrt: Heute gilt als gebildet, dessen persönliche Erfahrungen in seinem Denken überhaupt keine Rolle spielen, der bereit ist, in diesen fremden Systemen zu denken, anstatt von seiner Lebenserfahrung, wie eng oder weit die auch sein möge, auszugehen.
Natürlich hat dies direkt mit dem Wahrheitsfaktor der Ideologiesysteme selbst zu tun. Die Differenzierungen der existierenden ideologischen Modelle, so Schelsky, existieren nur in den Köpfen der Ideologen, der Intellektuellen, die mit veralteten Erklärungsansätzen operieren, die in den nach wie vor bestehenden Institutionen aber unveränderbar einzementiert sind. Und die Intellektuellen als tragende Kräfte in Politik, Bildungseinrichtungen und Universitätslehre arbeiten auch mit aller Kraft daran, diese Dogmatisierung der Erklärungsmodelle aufrechtzuhalten: sie haben ein reales und sehr vitales Interesse an der Aufrechterhaltung des Realitätsverlusts.
Nur dort aber läge Gesundung: indem die Menschen ihre Welt der Anschauungen wieder in ihren ganz persönlichen, individuell gefärbten Erfahrungen verankern, ja von dort aus ihre Anschauungen formieren - nicht umgekehrt. Nur dort liegt die Offenheit für Wahrheit.
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