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Dienstag, 29. Oktober 2013

Religion und Vernunft

Vielleicht erschließt sich der Zusammenhang der "sittlichen Haltung" und der Wahrheit als religiöser Wahrheit, also der personale Charakter der Wahrheitserkenntnis und des Denkens, aus der Überlegung heraus besser, daß es Vernunft nur geben kann, wenn der Mensch bereit ist, wirklich in das Wesen der Welt, der Dinge einzusteigen. Er muß die Welt "nachfühlen", um sie zu erkennen. Und DANN erst kann er eine Vernünftigkeit von Religion erfahren - wenn er daraus ein Streben der Welt über sich hinaus, nach Sinn erfährt und sieht. Sieht.

Deshalb hat Religiosität direkt mit entwickelter, gesunder Empfindungsfähigkeit zu tun. Denn natürlich kann sich die Existenz Gottes nur aus dem Erfahren der Welt "aufdrängen". Als Gewißheit, die sich aus dem Sehen der Welt ergibt. Glaube braucht also zuerst: sehen, was ist. Blinder Fideismus kann kein Glaube sein, er ist Ideologie, und das heißt genau ein Halten über der sinnlichen Wahrnehmung, ein Nicht-Zulassen jener.

Religiosität ist gleichzeitig und damit eben genau auch nicht dumpfes "Empfinden", das keine Vernunft verträgt. Das Angst hat vor dem Verstand. Damit würde sie irreal sein, damit würde Gott kein "Element" der Wirklichkeit, der Geschichtlichkeit sein. Was hätte so ein Gott für einen Sinn? Was wäre das für ein Gott?

Glaube, Religion hätte keinen Sinn, wenn sie nicht diesen Anspruch auf "Wahrheit über die Welt" besäße, auf Aussage über Wirklichkeit. Sie wäre bloßes Konstrukt, Ideologie, Weltanschauung, was auch immer man dafür an Bezeichnungen haben kann. Religion muß wirklichkeitstauglich sein, sonst ist sie lächerlich. Das ist ihr Mindestanspruch.

Wer also gestörte Empfindungsfähigkeit hat, hat auch gestörte Gewissensbildung - als Gewißheit über die Welt. Damit über das, worüber Verstand, Vernunft, Sprache überhaupt erst spricht. Und sei es: als Frage, die aufsteht, indem man den Dingen und Lebewesen zusieht. Genau zusieht. Sieht, daß sie auf etwas abzielen. Daß es der Sinn ist, der die Dinge konstituiert, nicht irgendein mechanisches Geschehen. Hier hinkt die Philosophie der Öffentlichkeit noch gewaltig hinter den Erkenntnissen der Quantenphysik hinterher, übrigens.

Nur die gesunde Wahrnehmungskraft kann auch den Hinweis auf einen Gott, auf einen Schöpfer, überhaupt konstatieren. Als Hinweis, erst, und dann als mögliche, ja notwendige Annahme. 

Deshalb ist der Gott näher, der sich um Wahrhaftigkeit seiner Vernunft müht, als der, der sich auf ein vorgebliches "Empfinden" beruft. Wenn wir heute einen weitverbreiteten Atheismus feststellen dann hat das direkt damit zu tun, daß die Menschen nicht mehr bereit sind, die Mühe der Vernunft - Vernunft bedeutet eben: Mühe, die Treue zum Wahrgenommenen, gegen alle allgemeinen Aussagen und zeitgeistig-bergenden Paradigmen - auf sich zu nehmen.

Somit ist auch klar, daß die Rolle, die Computer im täglichen Leben spielen, fatale Auswirkungen haben kann - und wird. Denn der Mythos, daß es ein rein mechanisches Denken gäbe, nimmt den Menschen diese Mühe ab, und wird deshalb gerne ergriffen. Aber Denken ohne sittliche, menschliche Haltung gibt es nicht. Und nur in dieser Bereitschaft zur Wirklichkeit, zur Wahrhaftigkeit, kann auch Religiosität entstehen. Dann erst wird sie als Grundeigenschaft des Menschseins ergriffen und ergreifbar. Von der auch der autistische religiöse Eiferer weit entfernt ist, der einer "Religion" ohne Religiosität zugehört.

Religiosität besteht erst dann, wenn diese Probe auf Wirklichkeit gewagt wird. Und das heißt: mit offenen Sinnen, mit bereitem Herz dem Begegnenden gegenüber.

Und Glaube besteht erst dann, wenn mutig ein solches Prinzip der Weltwirklichkeit als TREUE ZUR ERFAHRUNG angenommen wird.* Der Weg zur Gotteserkenntnis kann nur über den Weg der Welterkenntnis gehen. Das Sein zeigt sich im Seienden, auf der Ebene der Idealität.

Wir leiden heute nicht zuerst unter "Mangel an Religiosität". Wir leiden unter Mangel an Wahrnehmungswillen und -kraft, und deshalb an Mangel an Religiosität.** Wir leiden an der propagandistischen Identität, die unsere Sinne überbrückt. Wir leiden unter der Dichte der Wortkaskaden, die uns treffen - weil treffen WOLLEN - noch EHE wir selbst wahrgenommen haben.



*Deshalb sind jene Leute verabscheuenswürdiger Abschaum, die da darauf warten, daß jeden Moment eine "Erfahrung" eintreten könnte, die eine Wirklichkeit der Welt offenbare, die mit ihrer gesamten Lebenserfahrung nichts zu tun habe, elementarsten Vernunftgrundsätzen, die sich aus eben dieser Erfahrung ergeben, widersprechen könnte. Die, etwa, esoterische Buchhandlungen durchkämmen, ob sie nicht noch irgendwelche Obskuritätencocktails finden. Jene, die auf "Wunder" gierig warten, ohne sich dabei je von einem Wunder zu jener Überzeugung bringen lassen zu können, die sie erhoffen, weil sie zu faul zu feige zu niedrig sind, zu einer Weltwirklichkeit aus Erfahrung zu stehen. Solchem Dreck, solchen Charaktermüll, der heute logischerweise zuhauf auftritt, mit Argumenten zu begegnen ist "Perlen vor die Säue" zu werfen. Diese Generation ist böse. (Lk 11,29)

**Deshalb der hier so oft vorgetragene Haß auf den "Sozialstaat" als "Amme für alles und jeden". Er entfremdet von der Wirklichkeit, er entwöhnt von der Wahrnehmung, er entwöhnt von der Wirklichkeitsrezeption! Als Sozialtechnik. So wie der Computer vom Denken entwöhnt. Oder die meisten Filme vom Sehen.





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