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Mittwoch, 23. Oktober 2013

Vom Schlußstein her lebendig gemacht

Zu einer wunderbaren Interpretation des Spitzbogens, der in der Gotik aufkam, stiftet Paul Claudel in "Ars Poetica Mundi" an. Noch in der Romanik, schreibt er, trägt der Rundbogen die gesamte Last - eine Last! - der Bedachung, die nur eine hochgehobene Grabplatte ist.

In der Gotik aber faßt sich alles im Schlußstein zusammen. Von einem Punkt her wird - von oben her! Symbol des Sohnes Gottes, Jesus Christus - die Kraft, die das gesamte Universum mit Leben (und das ist: Spannung der Teile zueinander, aus der heraus alles selbst ist - wenn es dagegenhält, weil es selbst ist) von einem Zentralpunkt her auf die Teile übertragen. Nicht: "in die Erde abgetragen", wie mathematisch versimpelter Sinn sagen könnte. Sondern mit Spannung erfüllt. Die gotische Säule IST durch diese Spannung mehr als eine bloße Aufeinanderschichtung von Steinen, wie sie die Romanik noch zeigte. Sie ist voller Spannung, die sie von oben erhält, gemessen nach Geist, konstruiert nach mathematischen Gesichtspunkten, die das geistige Wesen der göttlichen Idee aufzufangen trachtet. Nicht Last ist es, die die Welt belastet, sondern diese ist dazu begabt, aus sich heraus, und damit zu sich selbst gebracht, weil in seine höchste Möglichkeit gebracht, gespannt durch Christus den Pantokrator und Schöpfer, der damit (die tote Materie) zum Leben erweckt.*

Der Fortschritt in der Erkenntnis der geschöpflichen Welt hat ja damals zunehmend ihre Eigengesetzlichkeit als Analogie zu Gott erfaßt.* Die Kunst wird deshalb auch mutig gegenständlich-naturalistisch. Es sind aber nicht "die Gesetze der Natur", die die Welt beherrschen, sondern diese sind Wirkungen der inneren Wesenheit des Seins in seiner Ideengemäßheit und damit wesenhaften Ordnung, die hierarchisch aufgebaut ist.

Ähnlichkeiten zum Ursprung, aus dem alles hervorgeht, der Idealität Gottes. Und darin Hinweise auf die Wirklichkeit Gottes, der mit menschlichem Geist nie erfaßbar ist, der jedoch daran teilhaben kann (menschliche rationale Erkenntnis ist niemals abgeschlossen, denn sie nähert sich nur, als kleiner Schritt im Unendlichen). Denn menschlicher Geist muß diese Wesenhaftigkeit des Geschöpflichen in sich nachformen. (Niemand kann eine Statik "erfinden", die nicht auf dem Wesen der Dinge beruht.) Und er tut es im Maß der Sinnerfassung.

In dieser Erfülltheit mit Spannung aber ist das gesamte Gebäude - die Kirche, das Universum - hierarchisch gegliedert. Aber alles hat seine Aufgabe in diesem Zueinander, kein Stein ist sinnlos.

So wird der Kirchenbau zum Symbol des gesamten Universums, das in seiner Reingestalt die Kirche selbst ist, das neue Jerusalem. Ein entscheidender weiterer Schritt von der heidnischen Funktion des Tempels - hin zur realen Anwesenheit und (anteilhaften) Erkennbarkeit Gottes, als Analogie in der Schöpfung uns gegeben, um an ihm in der Geistigkeit (die aus dem Willen zu uns selbst erwächst, der in der Selbstübersteigung auf das Andere (Nicht-Ich), Erkennbare hin mit unserem Sein in eins fällt, sodaß wir sind, was wir wollen) teilzuhaben.**



*Das zeigt die Verfehltheit und Lächerlichkeit der Neugotik, die mit Beton diese Spitzbögigkeit nachzuäffen vorgegangen ist. Und macht die Neugotik (schon gar mit ihrer Verwendung von Baumaterialien) zu einer eminenten Aussage über das Wesen der Gegenwart, die damals zur Vollgestalt aufzustehen begann. Die Architektur des 19. Jhds. wird zum Schein, vor Vortäuschung falscher Tatsachen, und meint damit das Auslangen zu finden. Aber ihr Ausgangspunkt ist nicht mehr das Wesen der Welt selbst, ihr Zentrum, sondern die zum Bild erstarrte subjektive Erlebniswelt des Menschen, der Mensch selbst, im Nachäffen des Effekts, den wirkliche Gotik erzielte. Das brachte wahre Scheuslichkeiten wie die Votivkirche in Wien hervor. Das Urteil des "Schönen" wurde mehr und mehr zu einem Bewerten seiner Ähnlichkeit mit Ursprünglichem, aus dem sich das Maß des Schönen noch originär ergab, die aber bereits verloren ist. Selbst die Tatsache, daß solche Steinmetzarbeit wie sie im Mittelalter geleistet wurde heute eben nicht mehr leistbar ist ist bereits eine weitere und entscheidende Aussage - unsere Kultur kann solche Dinge aus sich heraus gar nicht mehr hervorbringen, sie wurde epigonal.

**Entsprechend allumfassend wird der Kirchenbau in der Renaissance, die die Kuppel der Antike deutlich wieder aufgreift: als Symbol des das gesamte Universum umfassenden - der Ausdruck der Kuppel, in der sich alles birgt, Kreis und Kugel als Symbol der Unendlichkeit - Vermögens des Menschen, das All zu verstehen. Darin drückt sich das Selbstbewußtsein aus, in dem nun gebaut wurde. Bis sich dieses "Weltverständnis" überhaupt in die Weltimmanenz abschloß.




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