"Unbegrenztes exponentielles Wachstum, endgültige Überwindung von Knappheit war die gemeinsame Voraussetzung der technokratischen und der radikal-emanzipatorischen Ideologie. Marxistische Panegyriker einer verwandelten und humanisierten Natur und einer am Ende auch verwandelten Natur des Menschen dachten ja nur jene Utopie zu Ende, die, wie Jonas zeigt, strukturell in der wissenschaftlich-technischen Zivilisation verankert ist: die Verwandlung der Realität in Science-Fiction.
Sie macht den Menschen im ursprünglichen Sinne des Wortes "utopisch", das heißt ortlos, indem sie ihn der ökologischen Nische entreißt, in der alles Lebendige angesiedelt ist. Jonas hat das Ruchlose dieses utopischen Optimismus sichtbar gemacht, und er läßt sich nicht verblüffen durch das Argument, wir könnten doch nicht zurück wollen zum Neandertaler, zur Sklaverei und zur Operation ohne Narkose.
Man muß nämlich nicht leugnen, daß es in vielen Hinsichten für die Menschen auf der Erde Verbesserungen gegeben hat und daß viele Menschen heute noch vergeblich auf die Früchte dieser Verbesserungen warten, um gleichzeitig zu sehen, daß der Fortschritt im Singular ein Mythos war, daß jeder Fortschritt im Einzelnen verantwortlich in Beziehung zu seinem Preis gesetzt werden muß, und daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt [was auf unser ökonomisches und zwischenmenschliches Verhalten gleichfalls längst anzuwenden ist, denn wir haben es hier mit einer allgemeinen Haltung in immer individueller Gestalt zu tun; Anm.] inzwischen bei uns längst unter das Gesetz des abnehmenden Grenznutzens geraten ist."
Robert Spaemann, in "Laudatio für Hans Jonas"
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Vor mittlerweile fünfzehn Jahren habe ich über diesen letzten Satz mit dem so hochzuschätzenden Pädagogen und Philosophen Walter Braun (dem ich so viel verdanke) einen brieflichen Disput geführt, der - Kriegsgeneration, und deshalb aus völlig anderem Erlebenshintergrund als ich - diese Folgerung (die Spaemann, mit Jonas, sehr richtig sieht) zu ziehen verweigerte. Denn diesen Satz Spaemanns kann man an dem (damaligen) konkreten Diskussionspunkt illustrieren:
Die Folgen für die menschliche Basis des einzelnen Kindes aus dem, was mit dem Schulbesuch (damals ging es darum) einhergehend auf ihn zukommt, sind so dramatisch zerstörerisch, daß das Wort '"Bildung" völlig neu durchgedacht werden muß, weil es vom Hintergrund eines verpflichtenden Besuchs öffentlicher Schulen abgelöst werden muß. Gleiches läßt sich auf mittlerweile nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche anwenden, deren fortlebende kulturelle Gestalt ursprünglich einem Übel abhelfen sollte (bzw. Wirklichung der Einzelnen zur Kultur institutionalisierte), längst aber weit mehr neue und vernichtende Übel hervorruft. Weil die humane Basis, die Fähigkeit sich noch aus eigener Kraft zu sich selbst zu regenerieren, nach diesem (Doderer) Kübel, der ihm über den Kopf gestülpt wurde den Dreck noch wegzuräumen, der an ihm zeitlebens herunterläuft, nachhaltig zerstört ist.
Besonders deutlich auch wird dieser Satz in manchen Bereichen heutiger "Medizin", deren "Kollateralschäden" (Stichworte: unter anderem Fortpflanzungsmedizin; Transplantationsmedizin) jeden Nutzen bei weitem übertreffen.
Dieser letzte Satz Spaemanns bedeutet tatsächlich historisch einen Aufruf zur "Wende", zu einem Abschied von Paradigmen, die Jahrzehnte und Jahrhunderte bestimmend waren. Wir stehen vor einem dramatischen Umbruch - den wir entweder gestaltend annehmen, oder aber über uns hereinbrechen lassen, wie es die Linke (interessanterweise, und gegen alle Beteuerungen) als die konservierende Kraft (denn die Utopie ist mittlerweile, weil als Handlungs- und Politikparadigma etabliert, konservatives Element) ansteuert.
Denn - wie oben formuliert - die Normalität wurde zerstört. Während sonst die Normalität der (ungefähre) Rahmen des ethisch Guten ist, ist er heute der Rahmen einer zerstörerischen Ethik. Denn die Erhaltensbedingungen des Menschen sind eben nicht - wie in der prinzipiell wertfreien Technik, die Ethik nur als Optimierungsstrategie versteht - beliebig variabel.
*151010*