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Dienstag, 19. Oktober 2010

Verblüffende Inquisition

In einer ersten vierbändigen Veröffentlichung haben (weltliche) Wissenschaftshistoriker ein erstes Teilergebnis ihrer Untersuchung der römischen Zentralstelle der Inquisition (die in den letzten Jahrzehnten "Glaubenskongregation" hieß, und der der jetzige Papst Ratzinger lange vorstand) veröffentlicht. Mit einem verblüffenden Ergebnis, das laut Neue Zürcher Zeitung durchaus als Demaskierung eines im 19. Jahrhunderts - im Zuge eines sehr realen Kulturkampfs gegen den Katholizismus - entstandenen Vorurteils angesehen werden muß, demgemäß die Katholische Kirche als Feind der Wissenschaft den Fortschritt des Abendlands behindert eher denn gefördert habe.

Tatsache ist vielmehr, daß die römische Inquisition - eine Zentralinstitution, die erst 1541 entstanden ist (zuvor gab es nur lokale Inquisitionen*), also auch nichts mit "mittelalterlich" zu tun hat, als Teil eines weiteren tiefen Kulturkonflikts, der durch Verleumdung dieser Epoche, die heute völlig mißverstanden wird, schlicht diskreditiert wurde - keineswegs gegen naturwissenschaftliche Thesen vorgegangen ist, wie es auch heute kolportiert wird. Diese kommen vielmehr kaum in den Akten vor*. Sieht man von all jenen Büchern ab, die aus sittlichen Gründen, ob anstößigen pornographischen Inhalts etc., verboten wurden.


Die NZZ dazu:

Was in diesen vier Bänden in minuziöser Arbeit rekonstruiert wird, betrifft kaum das, was seit dem späten 17. Jahrhundert in einigen europäischen Vulgärsprachen als «Wissenschaft» bezeichnet wird und sich erst im 19. Jahrhundert in der heutigen Form gefestigt und institutionalisiert hat. Der Heliozentrismus von Kopernikus ist im 16. Jahrhundert beispielsweise noch nicht aktenkundig geworden. Und Giordano Bruno ist im Jubeljahr 1600 nicht wegen seiner kühnen Kosmologie der unendlichen Welten verbrannt worden, sondern, wie die bereits seit langem bekannten Akten belegen, wegen seiner theologischen Häresien. Auffälligerweise ist es gerade nicht die Astronomie, die den Zorn der Inquisitoren und Zensoren erweckt, sondern vielmehr deren Schwester, die prognostische Astrologie – und zwar bloss dort, wo diese zukünftigen Ereignisse als «sicher» voraussagen zu können behauptet.

Sonst wird systematisch bloß gegen die schwarze Magie vorgegangen, da sich diese des Teufels oder seiner dämonischen Dienerschaft bediene. Hier sympathisiert der heutige Leser leicht mit der Auffassung der Zensoren. Solche Sympathie wird durch den Umstand gefördert, daß beide Praktiken, die astrologische Prognostik und die schwarze Magie seit dem 18. Jahrhundert den Pseudowissenschaften zugerechnet werden.


Es stellt sich die Frage, so die NZZ bzw. die Forscher, wie der Konflikt im 19. Jahrhundert überhaupt habe entstehen können. Denn das, worauf sich diese Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche angeblich bezogen habe, betrifft Wissensgebiete, die in den Augen der Kirche ja gar keine Wissenschaften waren:

Denn von der Warte der mittelalterlichen Terminologie aus betrachtet ist die Theologie ja nicht nur selbst eine der Wissenschaften («scientiae»), sondern gar deren Königin – und die einzige, in welcher man einen Doktorhut erwerben konnte (die anderen «höheren» Fakultäten, Medizin und Jurisprudenz, galten nicht als Wissenschaften). Logischerweise kann somit die Fehde eigentlich nur als wissenschaftsinterner Zwist begonnen haben, der im Laufe der Zeit zu einer Spaltung der Wissensmodelle, zu einem kognitiven Schisma, geführt hat.

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*(Es ist z. B. das heliozentrische Bild des Kosmos eines neben anderen, wobei im Prinzip dabei zum Problem wurde, wie die Metaphysische Wahrheit des Anthropozentrismus - der Mensch als Gottes Ebenbild, wie in Jesus unverrückbar geoffenbart - mit entsprechenden Beobachtungen und physikalischen Ableitungen vereinbar sein könne, denen gemäß die Erde NICHT das Zentrum des Alls sein solle.)


** Die Inquisition wurde völlig ungeteilt im Interesse der weltlichen Herrschaften aufgeführt, ja von dieser verlangt, weil damals noch völlig klar war, daß nur eine einheitliche Religion (bzw. Weltanschauung) des Volkes auch die Regierbarkeit möglich machte. Kam es in Religionsfragen zu Spaltungen, so würde unweigerlich auch ein Herrschaftsbereich in weltlicher Hinsicht bzw. eine Kultur zerfallen. Dies ist eine Wahrheit, die sich ja ununterbrochen bewiesen hat, und heute sträflichst - wobei: aus Dummheit wohl - aus dem Kalkül europäischer Politik (und Historie) verschwand. Diese (wirkliche) Einheitlichkeit der Weltanschauung und Religion, übrigens, ist vielleicht eine der markantesten Eigenschaften des europäischen Mittelalters. Und war Grundvoraussetzung für die Entwicklung der europäischen Kultur.


*191010*