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Montag, 18. Oktober 2010

Poetische Grunderfahrung

"Es steht nicht zum Besten in der Ehe Animus und Anima, des Geistes und der Seele. Die Zeit liegt weit zurück - die Flitterwochen waren bald vorbei -, wo Anima das Recht hatte, ganz nach ihrem Belieben zu reden und Animus ihr mit Entzücken zuhöre. Aber ist's nicht schließlich Anima, die die Mitgift eingebracht hat, und auf deren Kosten der Haushalt lebt?

Doch Animus hat sich nicht für lange in diese untergeordnete Stellung herabdrücken lassen und hat bald seine wahre, aufgeblasene, pedantische und tyrannische Natur enthüllt. Anima ist eine unwissende und dumme Gans, sie ist niemals in die Schule gegangen, während Animus einen Haufen Sachen weiß, denn er hat einen Haufen Sachen in den Büchern gelesen. Alle seine Freunde sagen, daß niemand besser reden kann, als er.

Anima hat kein Recht mehr, ein Wort zu sagen. Er weiß es besser, als sie, was sie sagen will. Animus ist nicht treu, aber das hindert ihn nicht eifersüchtig zu sein, denn im Grunde weiß er wohl (nein, er hat es schließlich vergessen), daß es Anima ist, der das ganze Vermögen gehört, und er ein Bettler ist und nur von dem lebt, was sie ihm gibt. Daher beutet er sie denn auch in einem fort aus und quält sie, um Geld aus ihr herauszupressen. Sie bleibt schweigend im Hause, die Küche zu besorgen und zu putzen, so gut sie kann. Im Grunde ist Animus ein Spießbürger; er hat seine regelmäßigen Gewohnheiten und liebt es, stets dieselben Gerichte vorgesetzt zu bekommen. 

Aber neulich hat sich etwas Merkwürdiges ereignet. Eines Tages, als Animus unerwartet nach Hause kam, hat er gehört, wie Anima ganz allein hinter verschlossener Tür sich ein wunderliches Lied sang, etwas, was er nicht kannte; und es gab kein Mittel, die Noten oder die Worte oder den Schlüssel zu finden; ein seltsames und wunderbares Lied. Seither hat er tückisch versucht, sie es wiederholen zu lassen, aber Anima tut, als wenn sie ihn nicht verstände. Sie schweigt, sowie er sie ansieht. Die Seele schweigt, sowie der Geist sie ansieht. 

Nun hat sich Animus einen Trick ausgedacht und fängt an, es so einzurichten, daß sie glaubt, er wäre nicht zu Hause. Nach und nach beruhigt sich Anima, sie blickt auf, sie horcht, sie atmet, sie glaubt sich allein und leise geht sie und öffnet die Tür ihrem göttlichen Geliebten."

(Paul Claudel, der in poetischer Form das Geheimnis jedermanns enthüllt, dem quasi Grunddogma der mystischen Psychologie.)

 
*181010*