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Donnerstag, 28. Oktober 2010

Wissens(chaftlichkeits)psychose

Er wurde von einem blinden Schicksal fast völlig um die Früchte seiner Arbeit gebracht. Und hätte ihn nicht ausgerechnet jener - Thomas S. Kuhn - in seiner Arbeit, die genau seine Thesen aufgreift und verwertet, und die dann berühmt wurde, "Strukturen wissenschaftlicher Revolutionen", wenigstens erwähnt, er wäre wohl völlig vergessen: Ludwik Fleck. Er war in den 1920er/1930er Jahren in den Lemberger Wissenschaftlerkreis eingebunden, der auch den Wiener Kreis reflektierte. Fleck lehnte dessen Ansatz ab, und sein Hauptwerk, das ihm einen ewigen Platz in der Geschichte der Wissenschaft sichern müßte, ist auch eine Kritik des Wittgenstein'schen-Popper'schen Positivismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg großen Einfluß gewann: "Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache". Von dem Buch, das gerade noch 1939 erschien, wurden in den Jahren bis zum Tod des Autors kaum fünfhundert Exemplare verkauft.

Ludwik Fleck (1896-1961)
Fleck war eigentlich Mediziner, und befaßte sich mit Typhus und Virenerkrankungen, was ihm in den KZs, die er später durchlitt, auch das Leben rettete: die SS entdeckte, daß er mehr als ein Arzt war, und steckte ihn in eine ihrer Serumsfabriken, wo er Typhus-Serum produzieren sollte. Was er scheinbar tat - dabei aber die SS-Ampullen mit unwirksamem Impfstoff füllte. Den wirklichen Impfstoff verwendete er nur für die kranken KZ-Insassen ...

Ursprünglich befaßte er sich mit einer Entdeckung im Bereich der Abwehrreaktion bei Typhus, wo ihm auffiel, daß sich Leukozyten verklumpten, sobald der Organismus an einer Stelle an einer Entzündung litt. Daraus entwickelte er den Fleck-Test, der in Polen und der Ukraine auch nach dem Krieg noch lange Zeit eine Rolle spielte.

Bald aber befaßte er sich mehr und mehr mit der Art, wie wissenschaftliche Theorien überhaupt entstanden, denn das schien ihm bei der Befassung mit Syphilis ein viel eigentlicheres Problem zu sein, als die Bekämpfung der Syphilis überhaupt. Fleck entdeckte, daß wissenschaftliche Meinungen und Ansätze nämlich nach sehr klar nachvollziehbaren soziologischen Regeln entstehen - und NICHT, wie die landläufige Meinung war, durch streng wissenschaftliche Aussintherung des Wahren, Besseren, und immer Besseren. Sie sind deshalb immer nur relativ zu ihrer Zeit zu sehen, als absolute Wahrheiten aber untauglich. Wahrheit? Wahrheit spielt bei wissenschaftlichen Auffassungen nur eine bestimmte Rolle, aber nicht einmal das ist sicher, wenn ...

... ja wenn die Thesenbildung nämlich zu esoterisch vor sich geht, also zu wenig externen, exoterischen Bildungsprozessen unterliegt, durch externe Kontakte, vor allem und interessanterweise im Kontakt mit dem "common sense", dem Hausverstand: durch Popularisierung der Thesen vor allem also. Denn frische Ansätze, Denkregeneration, braucht diese "Fremdheit", auch der Denkkreise. Fleck geht in Konsequenz tatsächlich so weit, den immer frischen Amateur(ismus) zur Bedingung der Wahrheitsfindung innerhalb einer Wissenschaft zu machen.

Wissenschaftliche Thesen aber werden durch soziologische Prozesse gebildet, durch zwischenmenschliche Vorgänge, die einer Absicherung von Identitäten gleichen. Das hat auch gravierende Auswirkungen bei der Auswahl des Nachwuchses, auch an den Universitäten, die sämtlich solchem Bestandserhalt entsprechen. Nur wer den solchermaßen entstehenden "Denkstilen" entspricht, vermag in diese Kreise und Zirkel auszusteigen, welche Ausleseprozesse alle Elemente von Eliteverhalten zeigen. Je homogener solche Zirkel sind, desto weniger Rolle spielt "Wahrheit", desto ausdifferenzierter werden bloße Abwehrmechanismen, desto mehr werden Tatsachenanalysen zu Irrtumsanalysen.

Wissenschaftliche Forschung vollzieht sich nie isoliert, sondern immer in Denkkollektiven, in denen Ursachen und Wirkungen kaum noch zu differenzieren sind. Aus ersten Thesen, die publiziert werden, entwickelt sich bald ein "Handbuchwissen", das mehr und mehr die Formen eines Denkzwanges annimmt. Entsprechend selektiv (und historisch gebunden) wird der Umgang mit Tatsachen, es entsteht eine "Harmonie der Täuschungen", Denken ist nur noch Selbstvollzug "sozialer Stimmungen". Neue, wirklich neue Erkenntnisse stehen nur noch in Zusammenhang mit Revolutionen des Denkstils der Denkkollektive, weil Erkennen von einer sozialen Wirklichkeit nicht zu trennen ist. Einer "absoluten Wirklichkeit" aber nähert sich diese Wissenschaftlichkeit nie, weil in dem Maß, in dem sich die Erkenntnis ändert, auch die Wirklichkeit herum umgeformt wird, jede Entdeckung erzeugt weitere Wirkungen im Getriebe der Forschung, die in sich konservativ bleibt, weil Kenntnisse aus Erlerntem bestehen. Die erkannte Wahrheit wird so relativ zum Zweck des Wissens.

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Bislang hat noch niemand wirklich seriös darüber nachgedacht, was für Konsequenzen diese Erkenntnis für die Zeit des Internet hat. Wenn sich nämlich die soziologischen Größen durch Globalisierung und Gleichzeitigkeit, durch Homogenisierung der Wissensgenerierung, nicht mehr erweitern, wenn also die Wissensgenerierung nur noch Angelegenheit einer einzigen homogenen Gruppe wird, mit lediglich mächtigeren, aber immer weniger "fremden" Denkorten, muß sich zwangsläufig Wissenschaft und wissenschaftliche Erkenntnis immer mehr in sich abschließen, und nur noch aus sich selbst entwickeln.

Damit schwindet die Wahrscheinlichkeit, daß durch Diskursprozesse, durch Kontakte mit "Andersdenkenden", Irrtümer ausscheiden, und steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sich zum Gegenteil Irrtümer perennieren, verfestigen, weil soziologisch ihre Tendenz zur "Ewigkeit", in der Selbstabsicherung, immer vollkommener ausprägen! Wissenschaftliche Thesen werden solcherart zu psychosozialen Erscheinungen, die von "Psychosen" nicht zu unterscheiden sind: zu "Wissenschaftlichkeitspsychosen".

Das Internet, die "eine Welt und Öffentlichkeit", wirkt somit fatal, weil es nur noch zur Potenzierung bereits bestehender Tendenzen und Konstellationen führt, zu einer Versteinerung der Konflikte durch Kategorisierung der einzelnen Denkdifferenzen zu absoluten Endkonstellationen - zur definitiven Ausschaltung anderer Denkansätze also. Die aber wissenschaftshistorisch unverzichtbar wären.

Unter solchen Ansätzen muß sich Wissenschaft - soweit sie offiziell ist - also zwangsläufig zu einer Irrtumsproduktion entwickeln, die in sich mehr und mehr gefangen bleibt. Weil sie Diskursprozesse immer einheitlicher werden, verlieren sie jede Maßstäblichkeit, und würgen selbst "kleine", partielle Gegenthesen mehr und mehr ab, weil sie die Natur auch solcher partieller Diskussionsprozesse maßgeblich eingreifen. Bildlich gesprochen: in der Diskussion mit dem Kollegen wirken autoritative Kräfte, die den zwischenmenschlichen Rahmen in die größte Weltvorgänge hinein verlängern.

"Seine" Autorität wird plötzlich die weltweiter Kollektive - es gibt durch die extreme Vernetzung (Twitter, Newsfeeder, etc. etc.) nur noch EINE soziologische Gruppe. Das Internet führt also nicht zu einer Diversifizierung, sondern zu einer Vertiefung, zu einer Einengung auf nur noch eine psychosoziale "Sieger-"Gruppe, durch Selektion.

Und wer alltägliche Informations- und Meinungsbildungsprozesse beobachtet, wird dies tatsächlich selbst im Kleinsten feststellen: es gibt keine kleinen partiellen Meinungsbildungsprozesse mehr, sondern mehr und mehr nur noch einen einzigen. Die sozialen Prozesse werden also immer einheitlicher, und damit die Kräfte die darin wirken: der Bezugspunkt sozialen Verhaltens (und damit die Kriterien der Meinungsbildung als Haltung zum "Wissen") wird, psychosozial gesehen, immer weniger das partielle, individuelle Gegenüber, sondern die eine, einzige "Welt".

Damit wird Wissensgenerierung generell - für JEDEN einzelnen - mehr und mehr zum Teil eines einzigen Vorgangs, und gerät in dringenden Zweifel, weil es für den, der in diese Prozesse (und hier ist die Rede von Lebens-, nicht nur Meinungsbildungsprozessen, weil Wissensbildungen soziale Vorgänge sind; siehe unter anderem Luhmann) eingebunden ist, kaum eine Möglichkeit gibt, zurückzutreten, um aus innerer, absichtsloser Distanz eine "eigene" Meinung zu bilden. Weil die Beteiligten alle einen - und zwar bald wirklich nur: einen! - Zweck verfolgen.

Rein soziologisch - hier habe ich schon mehrfach diese Tatsache dargelegt - ist deshalb die Beobachtung, daß sich "Problemdefinitionen" mehr und mehr verabsolutieren und globalisieren (Stichwort: Klimawandel), überhaupt nicht zufällig. Genauso wenig wahrscheinlich aber ... wahr. Wir meinen deshalb, folgerichtig, aus dem Beobachten weltweiter Prozesse, daß aus statistisch - aus diesem einen selektiven Horizont heraus - gleichen Prozessen (die das nur sind, weil wir sie SO SELEKTIEREN) auch einheitliche, alle umfassende Prozesse ableiten lassen.

Es ist aber - wissenschaftlich, wissenschaftstheoretisch - fast Gewißheit (weil so hoch wahrscheinlich zutreffender) zu sagen, daß SOLCHE Wissensbildungsprozesse kaum noch Wahrheits- und Realitätsgehalt besitzen, sondern sich als soziologische Prozesse verselbständigen. Eine eigene Dynamik entwickeln, weil ihr Zweck thesenprägende Kraft hat.

Die hier vorzufindende Ablehnung solcher Bedrohungsszenarios ist, wie noch einmal dargelegt sein soll, nicht auf einzelne Fakten zurückzuführen, sondern auf diese Prozesse, die analysiert zwangsläufig zu solcher Haltung führen. Was immer hier in den letzten Jahren beobachtet werden konnte wies zunehmend alle Merkmale solcher Psychosen auf, und keinesfalls und immer weniger Merkmale "wissenschaftlicher Thesenfalsifizierungen/-verifizierungen".

Vereinfacht: Wir leben heute im Zeitalter weltweiter Dämonien, weltweiter Massenpsychose, und nicht weltweiter (realer) Probleme.

***

Politisches Handeln, wie auch privates ethisches Handeln, ist also nur dann sinnvoll, wenn erst diese Psychose(n) abgelegt, überwunden werden, was an sich bereits politische Aufgabe wäre, woraufhin zum anderen der Blick für reale, partielle Probleme wieder frei wird. Nicht "größer", "globaler" also muß der Maßstab politischen Handelns werden, sonder "kleiner".


*281010*