Vielleicht ist hier der Punkt, an dem an etwas dezent erinnert werden soll - die Jubelhymnen, mit denen der "Arabische Frühling" in hiesigen Medien noch 2011 unterlegt worden war. Von Volksaufständen gegen die Diktatoren war noch 2011 die Rede, und vom Freiheitsruf des Volkes war die Rede, und von den USA, die nach Spiegel und Welt (und sogar Die Zeit bewahrt ihren damaligen Artikel im Netz) diese Aufständischen finanziert und mit Waffen - ja freilich, nur "leichten" Waffen - unterstützt haben, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen. War die Rede. Ach ja, die USA, die damals heftig Protest erhob, weil Asad "Aufständische" in ihrem Kampf gegen die Diktatur, unter der sie so litten, mit Militäreinsatz bekämpfte und sie Terroristen nannte.
Dieselben Aufständischen, die die USA damals großzügig mit Geld und Waffen unterstützte, ihnen so erst zur Formierung half, denn anders hätten sie gegen die Armee Syriens nicht bestehen können, werden heute, im Sommer 2014, drei Jahre später, von derselben USA niedergebombt (freilich, ohne nennenswerten Erfolg, dafür mit gewaltigen "Kollateralschäden", wie wir es vom amerikanischen Militär eben gewöhnt sind) - und eben diese USA rühmt sich NEUERLICH humanitärer Gründe und christlicher Gesinnung. Und nennt sie Terroristen.
Sei der geneigte Leser dem Verfasser dieser Zeilen (VdZ) nicht böse. Aber wenn der geneigte leser im Zivilleben SO handelt, kann er davon ausgehen, daß er über kurz oder lang wegen Schizophrenie in einer Nervenheilanstalt landet. Denn das wesentliche Zeichen geistiger Gesundheit ist, konsistent zu handeln, identifizierbar, zuordenbar zu sein. Je berechenbarer jemand ist, desto mehr schriebt ihm auch der Volksmund Vernunft und Persönlichkeit zu. Wer heute so, morgen so handelt, und beide noch dazu mit demselben Begriffsinventar bedenkt, der wird eben zu Recht ganz anders eingeschätzt.
Alleine in den beiden Fällen Ägypten und Syrien wird eines klar: Nur die harte, manchmal gewiß schreckliche Hand der "Diktatoren" war in der Lage, dem Großteil der Bevölkerung ein friedliches, halbwegs störungsfreies Entfalten ihres Lebens, und zwar in aller Unterschiedlichkeit, auch der Religion, zu gewährleisten. Heute kann in diesen Ländern niemand mehr störungsfrei leben, das Religionsbekenntnis wird zum Garantieschein für die Exekutionsmauer, und der Anteil der Bevölkerung, die sich von den mittlerweile eingesetzten Regierungen (wie in Ägypten) vertreten fühlt - ach ja, wie war das mit Demokratie? - ist zur Minderheit geworden. Den Terror haben nun die Befreier übernommen, und sie üben ihn noch dramatischer und weit (!) verbreiteter aus, als jene Diktatoren es je taten, die zu beseitigen sie antragen. Hier ist es Asis, dort ist es die USA. Denn Asad hält sich immer noch, ja er sitzt so fest wie nie im Sattel. Denn die USA brauchen ihn mittlerweile wieder.
Das Chaos aber, das diese "Freiheitsrevolten" angerichtet haben, die vor allem eines waren: getragen von unglaublicher Naivität und Dummheit, das bleibt. Hier von den Internetjunkies und Blogrevolutionären bewirkt (denen nicht einmal auffiel, daß sie etwas ganz anderes wollten als die "Massen", neben denen sie mit illuminierten Gesichtern einhertrotteten, denn was DIE wollten, wollten sie ja gar nicht, wie sich später, nach der ersten gültigen Wahl, für die sie alle ja so begeistert gekämpft hatten, herausstellte!), dort von den USA. Und es wird viele Jahre dauern, im günstigsten Fall, daß wenigstens der Großteil der Bevölkerungen in diesen Ländern wieder halbwegs normal wird leben können, wobei nichts mehr so sein wird wie früher. Aber nichts anderes als normal leben wollten sie doch, seit je? Nur war ihnen die Politik weitgehend egal. Der Eislieferant war zufrieden, wenn er am Roten Meer seine französischen Schnackies bedienen konnte, und der Hotelier, daß ihm Deutsche und Österreicher seine Kredite abdeckten.
Plötzlich aber, gezwungen, sich in diese Kategorien hineinzudestillieren, sieht alles anders aus. Plötzlich ist ihr Leben ... politisch!? Hat sie das je mehr interessiert, als am Stammtisch am Abend, beim Pfefferminztee und der Schischa im Straßencafé darüber zu diskutieren?
Wieder der Hinweis auf den wirklich ausgezeichneten 1. Teil der Romantrilogie von Jose Gironella, "Die Zypressen glauben an Gott". Der ohne jede Parteilichkeit, aber mit scharfem Blick, genau das zeigt: Es war immer so, daß man unterschiedlicher Auffassungen war, und man diskutierte darüber, heftig und ,mehr oder weniger fundiert, aber trank dann seinen Absinth oder seinen Mokka zusammen, traf sich am Sonntag zur Messe oder donnerstags beim Schachspiel. Der der "sozial" dachte, der der "anarchistisch" dachte, und der, der "royalistisch" war, es spielte im realen Leben keine Rolle. Aber plötzlich hieß es, daß diese Unterschiedlichkeit der Meinungen, die sich doch im normalen Leben so einfach wieder zusammengefunden hatte, wo es um Brot und Esel und Dachziegel und Autoschäden ging, das entscheidende Kriterium sei. Selbst der Anarchist ließ es sich nicht nehmen, bei der Karfreitagsprozession die Leidensgestalt der weinenden Heiligen Maria mitzutragen. Und der Kommunist betrieb eine Fakturei für Heiligenfiguren, die alle schätzten. (Genau das ist der Grund, warum der VdZ die "Don Camillo und Peppone"-Filme so liebt. Das aber nur nebenbei.)
Plötzlich aber ließen sich alle auf diese Ideologien als erster Lebensebene ein. Plötzlich war der Andersdenkende kein Mensch mehr. Plötzlich brach die "Demokratie" auf ihre schärfste Weise ein. Die doch formal längst eingeführt, aber allen irgendwie egal war, mit der man halt genauso lebte, wie man zuvor unter einem König gelebt hatte. Gewohnt, daß Regieren vor allem heißt, die Menschen leben zu lassen, wie sie immer gelebt haben und weiter leben wollen. Liberalismus also im besten Sinn.
Wie der gespenstische Richtungswandel des Vogelzugs war das übers Land gekommen. Oft provoziert, noch öfter gewollt, immer aber im Nichts gelandet, auf einmal aber vollzogen. Niemand weiß mehr, wer damit begann. Mit einem mal hieß Politik, die Art zu leben bis ins Detail zu bestimmen. Was zuvor niemand so ernstgenommen hatte, daß es ihn in seiner Lebensart bestimmte, sondern einfach da und dort halt ertrug, war mit einem mal zum haarfeinen Kriterium über Leben und Tod geworden. Plötzlich war derselbe Lehrer, den man zuvor als Pädagogen - trotz so mancher problematischer Aussagen - geachtet hatte, zum Todfeind geworden, der über die Schüler die Eltern aushorchte, derselbe Ministrant, dem man am letzten Sonntag noch einen Kuchen zugesteckt hatte, den die Frau gebacken hatte, zum politischen Teufel geworden, den es zu eliminieren galt, ehe er mehr Schaden anrichtete. Plötzlich wurde der uralte Freund der Familie zu jenem, der die eigene Frau grausamst umbrachte, bei der er noch vorigen Sonntag den Braten gelobt hatte. Und der nun die Priester, denen er seit je die Taufe seiner Kinder vollziehen ließ, schlachtete wie Vieh. Und der von allen geliebte und als Heiliger bezeichnete Bub wurde zum gefährlicher Pfaffenzögling, den man kalt erschoß, im Namen einer glorreichen Zukunft. Das Ergebnis ist bekannt: Der spanische Bürgerkrieg brach aus. Binnen weniger Tage war das Land auseinandergerissen, binnen einer Wochen standen sich zu allem bereite Todfeinde gegenüber. Terror breitete sich über das ganze Land aus, der 10 % der Bevölkerung das Leben kostete, und dessen Wunden bis heute nicht geheilt, nur verdeckt sind.
Klingt das nicht wie Syrien? Wie Ägypten? Wie Libyen? Wie der Irak? Wie der Jemen? Wie Tunesien? Klingst es nicht wie lange zuvor schon nach Libanon, der noch vor sechzig, siebenzig Jahren die "Schweiz des Orients" gewesen ist, in der dutzende Religionen und Volkschaften friedlich nebeneinander lebten und ihren Alltag so bewältigte, daß alle im Frieden und (in diesem Fall sogar: enormem) Wohlstand leben konnten? Aus heutiger Perspektive klingen diese Erinnerungen an real gewesene zustände wie Visionen vom Paradies. Weil wir das alles vergessen haben. Wer aber, wer bitte, welcher Idiotensinn hat all das mutwillig zerstört, weil er glaubte, es besser zu wissen, weil er (eigentlich) die Souveränität der Staaten einfach nicht respektierte? Weil er jeden, der nicht war wie er, zum Unmenschen erklärte?
Ja, Sie haben recht, geneigter Leser, man hat einfach einmal die Nase voll. Aber wann, wenn nicht jetzt, müssen diese Dinge ausgesprochen werden? Heimito von Doderer schreibt einmal in seinen Commentarii zur Begründung, warum er fast nur noch Tagebuch schreibe, und nicht mehr an seinen Manuskripten (die er, auch das interessant, später völlig verwarf, die "Dämonen" - eine Hochempfehlung! - völlig neu ansetzte), daß es eben so Zeiten gebe, wo das Außen derartig besitzergreifend wird, daß man seine ganze Zeit nur noch damit verbringt, sich davon wieder los- und freizuschreiben. Sodaß für die Muße der Poesie kein Raum mehr bleibt. Doderer schrieb in den Kriegszeiten, dern er, alter kuk-Kavallerioffizier, durchdiente, fast nur noch Tagebuch.
Der VdZ (der sich natürlich in keiner Weise mit dem Rang des von ihm so verehrten Meisters messen will) spürt es jedenfalls genauso. Und mit großem Bedauern.
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