Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 7. September 2014

Wie es sich Maxis so vorstellen

Wie sehr im Westen Europas bereits eine Umkehr vom Rechtsstaat zu einer ideologischen, ja missionarischen Zwangsgemeinschaft im Begriffe ist, sich zu vollziehen, zeigt der Artikel des Chefkommentators der Welt, Jacques Schuster. Sein Kommentar zu Ungarn und Viktor Orban zielt entsprechend nur noch auf "Werte" ab. In aller Schwammigkeit natürlich. Denn Schwammigkeit der Leitwerte wie "Demokratie" und "Freiheit" ist nicht nur typisch, es ist, liest man die erhellenden Analysen von Jacques Ellul, Prinzip einer auf Totalitarismus abzielenden Propaganda. Sie bewirkt nämlich das Abdriften der Bevölkerung zur Hörigkeit, es kann sich nur noch der Willkür unterwerfen, die in solchen gar nicht ausdefinierten "Leitwerten" und (allerdings austauschbareren) "Leitfiguren" repräsentiert wird.

Orban wird hier als Epigone dargestellt, in einer Mischung aus Erdogan und Putin, so Schuster. Nun mag man über die Person Orban denken wie man will, und der VdZ fühlt sich nicht in der Lage, zu einem wirklich relevanten Urteil zu gelangen. Er "lebt" nicht in Ungarn, er "wohnt" nur dort. Und daß er seit geraumer Zeit eine gewisse Aufhellung der so lange düsteren Stimmung der Menschen hier zu bemerken meint, was sich u. a. in einer beginnenden erstaunlichen, auch ökonomischen Wiederbelebung des so lange Jahre regelrecht ausgestorbenen Zentrums von Sopron zeigen könnte, so muß dieser subjektive Eindruck nichts heißen. Und schon gar nicht gefällt ihm, was die Ungarn, die vor offenen Räumen, Plätzen regelrecht Angst haben, die sichtbar Angst haben, nicht nur die Touristen, sondern sie selbst könnten vergessen, daß sie eine tausendjährige Geschichte am selben Platz haben, aus ihrer historischen Bausubstanz machen. Aber er versteht es zumindest ein wenig, und lächelt mittlerweile milde, wenn sie wie jetzt den halben Graben ("Várkerület") aufreißen, um ihn zur nächsten, in kleinste Räume segmentierten Fußgängerzone zu pflastern. Es ist ihr Land, es ist ihr Leben, es ist ihre Art, Raum und Leben zu gestalten. Daß es in Ungarn eine penetrante Kleinbürgerlichkeit gibt, ist auch kein spezifisch ungarisches Problem, darin wird es etwa von Österreich um Dimensionen übertroffen. Anderseits wird hier (wie in den meisten ehem. Ostblockstaaten) auf eine Weise öffentlich frei gesprochen, zumindest unter der Bevölkerung, die etwa wieder dieses Österreich schamvoll rot anlaufen lassen sollte, wo die Durchdringungsrate mit Blockwarten jedes Kommentars unwürdig ist.

Aber genau das vermeint der VdZ in der Politik des Viktor Orban festzustellen. Gut, Orban mag nicht immer klug vorgehen, auch wenn er schon mehrfach für Dinge gegeißelt wurde, die in ganz Europa üblich sind oder sogar nachgemacht wurden, man denke an das Bankenkapitel. Er mag nicht immer weise vorgehen, gut, aber das will der VdZ nicht beurteilen. Aber ... er versucht sichtlich und dabei doch so zaghaft, die Zukunft des Landes zu gestalten, nicht einfach irgendwie etwas passieren zu lassen das darin endet, Ungarn einfach dem westlich-amerikanischen Lebensstil zu unterwerfen, wie es so manche andere ehemaligen Ostblock-Staaten nach 1989 versuchen oder sogar schon vollzogen haben. Er versucht - zumindest verbal ist es so zu vernehmen - einen eigenen ungarischen Weg zu finden. Dabei kann kein Tabu sakrosankt genug sein, um nicht hinterfragt zu werden.  Daß ihm dabei die finanzielle Lage des Landes sogar noch entgegenkommt, ist ihm ja nicht gerade zum Vorwuf zu machen: sie ist kaum anders als im Westen, nur wird sie dort mächtiger ignoriert. Noch.

Also ist er halb gezogen, halb gesunken in der Frage, ob für Ungarn der Weg des westlichen Liberalismus überhaupt geeignet sein kann. Der, so Orban, ja nachweislich nicht in der Lage ist, das Proprium eines Volkes, sein Eigentum zu schützen. (Will man ihm da widersprechen? Damit kämpfen doch sämtliche europäischen Staaten gleichermaßen.) Sodaß ein Weg gesucht wird, der nicht davon ausgeht, die Welt nach der eigenen Art und regionalen Sendung durchdringend zu gestalten, sondern im Grunde völlig hörig irgendwelchen Grenzmarken folgt, die ihm von außen gesetzt werden. Ja, er fragt neu nach der historischen Sendung des Landes im Karpatenbecken, das ihm vom Kaiser zugewiesen wurde, der mit Stefan Ungarn zu einem der wenigen noch existierenden wirklichen Königreiche Europas machte, das seine Krone aus den Händen des Papstes empfing. Was die Ungarn bis heute nicht einfach abtun, sondern eine gar nicht kleine Rolle spielt. Viele Ungarn sehen die Monarchie nur als sistiert, als ausgesetzt, den Thron als nicht besetzt. Aber Königtum bezieht sich auf die Krone, nicht auf die Person. Und rein formal hat Ungarn die Monarchie nie abgeschafft.*

Wäre es Ihnen lieber, werter Chefkommentator, daß Orban eine blitzeblanke Utopie aufstellt, der dann alles zu unterwerfen ist, wenn Sie kritisieren, daß das, was Orban anstrebe, nicht wirklich greifbar und definiert ist? Zumindest der VdZ ist der Ansicht, daß es viel gefährlicher ist, ein Utopie aufzustellen, als bei dem zu beginnen, was einem eben nicht paßt, was auf jeden Fall nicht stimmen kann. Neue Wege haben es eben so an sich, daß sie erst einmal nur schwaches Silber am Horizont sind. Oder wußten die westlichen Regierungen - betrachte man doch nur die Politik in der Weltfinanzkrise seit 2008, die nicht und nicht aufhört - was sie wollten und sollten? Sind Sie wirklich dieser Meinung? Dann muß erlaubt sein, sarkastisch zu hüsteln ... Mehr getrieben sein, mehr herumschlagen kann man ja wohl kaum noch. Dagegen wirkt Orban ja wie ein überlegter Philosoph.

So ist es eben, wenn Zeiten komplex sind - man muß den Mut aufbringen, loszusegeln, neue Wege zu suchen, das Alte, Ungenügende loslassen. Oder meinen Sie, Kolumbus (wenn wir schon bei Amerika sind) hätte anders je den Atlantik überquert? So ist das eben bei schöpferischen Leistungen, die wenigstens irgendwie (und dabei eh so halbherzig) zu wollen man Orban zumindest attestieren muß. Und das ist immerhin schon sehr sehr viel mehr, als man West-Europa derzeit zusprechen kann, dessen Politiker sich lieber noch mehr in alte Bastionen eingraben, die Festungen lieber noch weiter ausbauen, damit sich nur ja nichts von dem ändert, während umgekehrt jeder Bürger albtraumgeplagt schreit: So kann es doch nicht weitergehen?! Ungarn hat als bloßes Glied westlicher Starre wenig zu verlieren, und das ist eine durchaus positive Qualität, wie sie nämlich im Leben immer wieder auftaucht. Aber es hat, wenn es den Mut aufbringt, viel zu gewinnen. Nur: anderes. Denn was der Westen als Lohn und Lebensgewinn darstellt erscheint nicht nur vielen Ungarn (und das hat der VdZ in manchen Gesprächen direkt so gehört) als alles andere als erstrebenswert. Und darum wähl(t)en viele Ungarn Orban, die an sich gar nicht so von ihm überzeugt sind und ihn keineswegs als Messias sehen. Aber er versucht immer wieder einmal etwas "anderes". Denn wie zuvor wollen viel nicht mehr weitertun.

Was Schäfer hingegen zitiert, um die Bösartigkeit Orbans darzustellen, ist wert, hier belegend angeführt zu werden. Denn es bewegt sich völlig im Rahmen staatlicher Souveränität (ja, Herr Schäfer, das gibt es, ja es ist, schreibt Edith Stein, wesentlichstes und erstes Merkmal eines Staates), und wenn ein Herr Schäfer, der immerhin Chefkommentator der Welt ist, meint, Europa müsse handeln, so muß er sich in Acht nehmen, sich nicht sehr gefährlichen, ja wirklich gefährlichen Tendenzen zu nähern, die das Völkerrecht nach Belieben auflösen, um "höherer moralischer Ziele" willen. Wie es zum Beispiel die Amerikaner so gerne machen, natürlich auch, ja immer unter höchstem moralischem Anspruch. Doch dann löst sich jede Rechtsbasis auf, in den Staaten wie zwischen den Staaten, und Barbarei ist die zwangsläufige Folge. Barbarei, die Schäfer Orban unterstellt, ist also vielleicht gar keine. Und auch der VdZ kann sie keineswegs feststellen, wenn Orban etwa sagt:

"Ungarn müsse sich, so Orbán, an Gesellschaften orientieren, die "nicht westlich, nicht liberal, und keine liberalen Demokratien, vielleicht nicht einmal Demokratien sind". Liberale Demokratien seien unfähig, das "zur Selbsterhaltung der Nation notwendige öffentliche Vermögen zu beschützen" und die "Interessen der Menschen, die anerkannt werden müssen, in eine enge Beziehung zum Leben der Gemeinschaft, zur Nation zu stellen". In diesem Sinne, so Orbán auf dem Höhepunkt seiner Rede, sei seine Regierung im Begriff, den Liberalismus in Ungarn zu beseitigen und einen "illiberalen Staat" nach einem "eigenen, nationalen Denkansatz" zu errichten."

Und:

"Wie dieser Staat und seine Gesellschaft aussehen sollen, deutet Orbán nur raunend an. Bürgerrechtsbewegungen und Vereine, die über den Rechtsstaat wachen, wird es in ihm wohl nicht mehr geben. Folgt man dem Regierungschef, dann bestünden die meisten NGOs seines Landes aus "vom Ausland bezahlten politischen Aktivisten", die jetzt schon beobachtet und überwacht werden müssten – ganz so, wie es im Russland Wladimir Putins üblich ist."

Tja. Welche politischen, philosophischen Denker soll der VdZ denn zitieren, die die Aufsplitterung der Gegenwart, die das Entstehen solcher Parallelmächte, als das Ende des Staates erkennen? (Carl Schmitt wird für Herrn Schäfer ja ein Gottseibeiuns sein, also lassen wir ihn weg.) Sodaß der naive Pluralismus des Westens sich als alles andere herausstellt, als eine Freiheitsgeste des Volkes zu sein, sondern als politisches, gezielt eingesetztes Mittel der Destruktion wirken könnte? Wieviele Eigenaussagen etwa eines George Soros will er hören, die belegen, daß sehr gezielt und mit viel Geld Aktivistengruppen - NGOs - in den Ländern des ehemaligen Ostblocks (und ganz gewiß nicht nur dort) ins Leben gerufen und an diesem erhalten haben, um politisch recht eigene Wege zu initiieren? Wird ein Kronzeuge wie Peter Scholl-Latour akzeptiert, um die Richtigkeit dieser Behauptungen, die auch jener immer wieder aus Augenschein und Gesprächen vor Ort heraus aufgestellt hat, zu belegen?

Oder fällt Herr Orban aus dem westlichen Werterahmen, weil er meint, daß Zuwanderung die demographischen Probleme des Landes nicht lösen könne? (Wobei: Ungarn ist ja ohnehin nur Transitland für die Zuwanderung nach westlicheren Ländern. Der ungarische Baum ist abgefressen und kahl. Zuwanderer finden hier nur harte Arbeit, wenn Sie gut leben wollen.) Oder weil er gar meint, daß die Sanktionen gegen Rußland ein Unsinn sind, mit dem sich der Westen nur selbst schadet, und für die Zukunft Türen für ein gedeihliches Miteinander zuschlägt? Wenn das Rechtspopulismus außerhalb europäischer Werte ist dann muß man die Hälfte der europäischen Bevölkerung (und mehr) einbuchten. Denn so denken die meisten Europäer. Man darf halt nur nicht meinen, sie "dürften" das nicht. Das nennt man dann Toleranz: den Anderen in seinem Anderssein akzeptieren, auch wenn es mir nicht paßt und ich selbst ich bleibe.

Auf das, was freilich Schäfer auszusetzen hat, wie er Aussagen bewußt umlügt und Orban damit diffamiert, erst ins Licht von Blut- und Bodenromantik taucht, und dann notdürftig mit "Fast möchte man behaupten" kaschiert, kann man aber nur antworten: Genau. Um diese Fragen geht es für Europa, und zwar lebensnotwendig. Denn nicht nur Herr Orban meint, daß das, was Herr Schäfer meint, wofür Europa angeblich "gekämpft und gelitten" hätte, gar nicht das ist, wofür Europa gekämpft und gelitten hat, sondern das, WORAN es geblutet und unsäglich gelitten hat (auch der VdZ beherrscht also diese Spielberg-Romantik-Schleier) und so leidet, daß es dabei ist, an dieser Pest endgültig zu sterben. 

Herr Schäfer, so nebenbei: wofür "haben Sie gekämpft"? Oder auf welche Väter als Kämpfer beziehen Sie sich? Der Vater des VdZ jedenfalls - Urösterreicher im wahrsten Sinn - hat für etwas ganz anderes gekämpft. Und er war - eiderdautz - nicht nur kein Nazi, sondern sogar als Freiheitskämpfer in jener Zeit unterwegs, auf die Sie offenbar anspielen. Der - noch einmal: eiderdautz - den Amerikanismus keineswegs so schätzte, wie Sie es zu tun scheinen. Und der, als Politiker, als Zeitungsherausgeber, als Unternehmer, als Christlichsozialer bis in die Wolle, nach 1945 bestes Einvernehmen mit den Russen hatte. Und - eiderdautz die Dritte - Personen wie ihm ist es zu verdanken, daß nach 1945 so rasch wieder demokratische Strukturen in Österreich aufgebaut werden konnten, das ist belegbare Aussage.

"Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass man hierzulande erst jetzt eine Rede Viktor Orbáns zur Kenntnis nimmt, die er schon Ende Juli im rumänischen Băile Tuşnad hielt. Sie schlägt alles aus dem Felde, was der Ministerpräsident bisher von sich gegeben hat. Übler noch: Sie ist nicht nur eine Kampfansage an die EU und an Europa, sie greift die westliche Demokratie und ihre Grundsätze an. Nichts wofür Europa steht, wofür es kämpfte, wofür es litt, findet in Orbáns Rede Widerhall.

Fast möchte man behaupten, hier mache sich ein demokratisch gewählter Regierungschef anheischig, die Ideale der amerikanischen Unabhängigkeit und der Französischen Revolution von 1789 in den Abfalleimer der Geschichte zu werfen, um ein Zeitalter der Volks- und Rassevergottung einzuläuten, das nichts mehr zu tun hat mit der Toleranz, dem Freisinn und der Freiheit des Einzelnen."

Vielleicht, Herr Schäfer, ist die Welt doch ein wenig komplexer, als Sie es sich vorstellen. Aber an dieser Einsicht können Sie ja noch arbeiten. Sie sind ja noch jung.



*Anders als etwa Österreich, das sich heute so gerne undifferenziert mit fremden Federn vergangener Größe schmückt. Das auf dem heutigen Staatsgebiet aber nie etwas anders hatte als höchstenfalls Fürsten- und Herzogtümer. Einen "österreichischen König" gab es nie. Das Kaisertum der Habsburger bezog sich dabei entweder auf Deutschland im Ganzen (bzw. das Hl. Römische Reich), wozu sie aber sogar gewählt werden mußten, was aber spätestens nach dem 30jährigen Krieg zur Formalität verkam, oder später auf Ludomerien als Trägerkrone der Kaiserwürde (womit man sich freilich strategisch einen Mühlstein existenzwesentlich um den Hals band, wie sich im 1. Weltkrieg erwies, denn Gallizien war nicht zu verteidigen; der dort geleistete extreme Blutzoll legte aber bereits die Schienen für die spätere militärische Entwicklung und Schwäche.) Worin sie die Selbstausrufung (aus Reaktion auf Napoleon bereits 1804) sauberer zu legitimieren suchten. 

Die Kaiserkrone einem Herzog aufzusetzen war aus naheliegenden Gründen unmöglich. Diese Würde ist ja die Überhöhung aller irdischen Macht (man beachte die großartige Symbolik der österreichischen Kaiserkrone, die zeigt, sie es sich verstand!) Sie kann deshalb keinem Herzog aufgestülpt werden, abgesehen von Rangproblemen im Reich. Könige waren die Habsburger aber nur als Könige von Ungarn, Böhmen, Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien, sowie von Jerusalem (worauf ja die Kaiserwürde des Hl. Römischen Reiches wiederum beruhte.) Nie als "Österreicher".  Zur Hausmacht der Habsburger gehörte aber nur das Kgr. Lodomerien.

Das Bleibende war eben immer die Krone, nicht der Mensch, der sie trug. Das Kaisertum "Österreich" stand also von Anfang an auf schwachen Legitimationsfüßen, und die Folgen - mangelnde Akzeptanz bei den Reichsvölkern - sind evident. Es hatte seinen guten Grund, daß der preußische König Friedrich Wilhelm IV. diese Würde in Selbsternennung durch das Volk (Nationalversammlung) ablehnte - sie war ihm DAMIT nicht legitimiert, und solche Herrschaft trägt ihr Ende bereits bei der Geburt in sich. Der Ausgleich mit Ungarn 1867 fällt deshalb genau in diese Kategorie, noch mehr der Zerfall des Habsburger Reichs bis 1918. Seit 1867 gehörte das Königreich Ungarn schon nicht einmal mehr zu diesem "österreichischen Kaisertum" (weshalb sich die Monarchie ja als "kaiserlich-und-königliche" Doppelmonarchie bezeichete), was die wenigsten Österreicher zu wissen scheinen. Es geht eben meist um kleine, aber entscheidende Fragen, der Teufel steckt eben immer im Detail.




***