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Montag, 1. September 2014

Verlust des Realitätssinns (EU, NATO und Ukraine)

Einen recht brauchbaren Vergleich zieht John J. Mearsheimer in einem online-Artikel in Foreign Affairs. Er geht aus von der historischen Tatsache, wie die USA im Falle Kubas reagiert hatte, als Kuba eine militärische Allianz mit den Sowjets etablieren wollte. Kennedy ging bis an den äußersten Rand eines Atomkrieges, um das zu verhindern. Mearsheimer vergleicht den Fall Ukraine genau damit. Und stellt die rhetorische Frage, wie wohl die USA heute reagieren würde, wenn Kanada oder Mexiko sich anschickten, in eine Militärallianz mit Rußland einzutreten.

Er zeigt dann in einem chronologischen Überblick, daß die NATO seit den späten 1990iger Jahren aber genau das versucht. Die damalige Schwäche Rußlands - Gorbatschow und Jelzin werden nicht nur von der Mehrheit der Russen, sondern auch von Beobachtern wie Scholl-Latour unter die Kategori "Landesverräter" eingeordnet - hat die NATO fast blitzartig ausgenützt, um vom Baltikum über Polen, die Tschechei, die Slowakei, Ungarn bis Rumänien, ja bis nach Mittelasien, dieses Militärbündnis auszuweiten und Rußland so regelrecht an die Pelle zu rücken. Nur im Falle Georgiens und der Ukraine siegte kurzfristig die politische Vernunft, und man beschloß, damit zumindest noch zu warten. Denn Rußland hatte mehrmals unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß nun Schluß sei, und es niemals dulden werde, daß die NATO sich in den Vorgarten Moskaus noch weiter einniste. Einen souveränen Staat Ukraine, der in das westliche Militärbündnis eingegliedert sei, könne man niemals akzeptieren. Und wer nur ein wenig Funken Verstand über die strategischen Bedürfnisse eines Staates hat, sieht das auch ein.*

Dennoch hat man seitens des Westens nie aufgehört, daran zu arbeiten. Der Artikel zeigt die konkreten Schritte, die seither nach und nach gesetzt worden waren.

Als sich Rußland unter Putin wieder auf sich selbst zu besinnen begann, stand es bereits vor ziemlich vollendeten Tatsachen. Die man, so Mearsheimer, als direkte Provokation sehen muß. Trotz vieler Warnungen, ist der Westen - EU und NATO - mit nächsten Schritten immer weiter vorgegangen, und hat der Ukraine immer deutlicher zu verstehen gegeben, daß sie in die westlichen Unionen integriert werden solle bzw. könne. 

Man kann nicht einfach naiv (möglicherweise aber auch böswillig) fordern, daß jeder Staat sich seiner Allianzen frei aussuchen können müsse. Am allerwenigsten akzeptieren das die USA, wie sich historisch zeigt. Ein Staat muß sich eben auch mit seinen Gegebenheiten im geographischen strategischen Raum abfinden, in dem er sich befindet. Ein quasi "neutrales Handeln" gibt es da nicht. Was er (hier: außenpolitisch) tut, hat Auswirkungen auf andere. 

Man stelle sich vor was passiert wäre, wenn Österreich 1960 seine Neutralität aufgegeben und der NATO beigetreten wäre. Man hat stattdessen eben nicht öffentlich darüber gesprochen, daß sich seine militärische Strategie ohnehin in ein Gesamtkonzept der NATO eingebunden verstand, was die Sowjets ebenso stillschweigend akzeptiert hatten, solange es zu keiner offiziell ausgespielten Karte wurde. Und davor hat sich Österreich wohlweislich gehütet, und zum Ausgleich seine Beziehungen zur Sowjetunion zumindest wirtschaftlich sehr ausgebaut, um seine freundschaftliche Haltung zu beweisen (und, so nebenbei, davon kräftig zu profitieren).

Es ist offenbar aber genau darauf, auf einen erschütternden Verlust substantiellen (geo)strategischen Begreifens zurückzuführen, wie bereits Clinton und nun noch mehr Obama zu meinen, es genüge für einen Weltfrieden, überall ein wenig Liberalismus und Demokratie zu etablieren. Es genüge für das Gemeinwohl eines Staates, seinen Menschen die Möglichkeit zu schaffen, beim King Royal Burger zwischen Käse oder Salat wählen zu können. Was bei solchem naiven Unverständnis der wirklichen Kraftlinien von Völkern und Staaten so erschreckt ist der Verlust des Realitätssinns. Und das hat sich ja, denkt man an den Irak, ja an den gesamten "Arabischen Frühling", längst bewiesen. 

Das Gemeinwohl eines Staates ist immer nur unter Bezugnahme auf seine reale innere, aber sehr wohl auch äußere Situation - als Nachbar, als Staat in einem geographischen, strategischen Großraum - zu betrachten. Deshalb muß man auch den Begriff der Souveränität in solchen Zusammenhängen sehen und auch relativieren. Ein schwacher Staat, wie die Ukraine, die sich im eigenen Inneren ja kaum zu ordnen vermag, muß eben damit leben, neben einem starken Nachbarn zu stehen. Noch dazu wenn wie in diesem Fall die wechselseitigen Verflechtungen - von der Wirtschaft bis zur Bevölkerung - so eng sind. 

Nicht zuletzt ist das an Österreich beispielhaft zu sehen, das 60 % seines Außenhandels mit dem großen mächtigen Deutschland abwickelt. Das schränkt selbstverständlich die Möglichkeit, stur und "souverän" eine eigene Außenpolitik zu verfolgen, schon recht ein. Und in einer ähnlichen Situation befinden sich ja fast sämtliche ehemaligen Ostblockstaaten, die überwiegend klein und wirtschaftlich auch noch schwach sind. Die Geschichte Ungarns in den letzen Jahren hat es illustriert, wobei Ungarn sogar in der Situation ist, lauter kleine und meist noch schwächere Anrainerstaaten zu haben.

Der einzige Staatsmann, der hier noch realistisch zu denken schien und scheint, ist ... Putin. Der Westen aber, nicht Rußland, hat sich mit einer provokativen Strategie in eine Einbahnstraße begeben, aus der es immer schwieriger wird herauszukommen. Stattdessen krallt man sich noch dazu immer fester auf einem Weg fest, der eindeutig ein Irrweg ist, aber direkt zu einer Auseinandersetzung führen kann, die Putin zu allerletzt gewollt haben kann. Von ihm zu verlangen, er solle halt einfach weiter nachgeben ist nicht nur naiv, sondern schlicht dumm. Nichts deutet darauf hin, so Mearsheimer, daß Putin VOR dem 22. Februar 2014 (Krim) einen Zerfall der Ukraine gewollt habe. Er ist klug genug um zu wissen, daß Rußland eine prosperierende, funktionierende Ukraine weit mehr nützt als ein ständig bettlägriger Subventionskandidat. Selbst aus militärischen Gründen ist nicht davon auszugehen, daß Rußland etwa vorhaben könnte, die Ukraine zu besetzen. Die Erfahrungen mit solchen Fällen zeigen seit Jahrzehnten konstant, daß sich der Invasor dabei eine blutige Nase holt.

Es gibt, so Mearsheimer, seit 20 Jahren kein Anzeichen dafür, daß Rußland - auch nicht unter Putin - imperialistische Tendenzen gezeigt hätte. Es befindet sich auch im Fall der Ukraine (so wie zuvor in Tschetschenien bzw. Georgien-Abchasien) in einer defensiven Haltung, zu der man es gezwungen hat, und muß aus notwendigem Eigeninteresse seinen Vorgarten zumindest neutral halten. Und dort könnte vermutlich auch ein Ausweg für die Ukraine zu finden sein. 

Aber dazu müßte die NATO (und auch die EU, die sich ja hier wie eine Vorfeldorganisation des Militärs gebärdet) ihre offensiven Pläne aufgeben! Der Fall Ukraine zeigt, daß Rußland endgültig nicht mehr bereit ist, weitere Ausweitungspläne zu akzeptieren. Es wird aber von Tag zu Tag schwieriger für den Westen, seine Politik ohne Gesichtsverlust zu ändern.

Noch aus einem anderen Grund versteht Mearsheimer aber das amerikanische Vorgehen nicht. Denn ob in Afghanistan² oder im Fall Iran³ hat Rußland den Amerikanern direkt geholfen, strategisch ihr Gesicht zu wahren. Und wie sich die Levante (Syrien) stabilisieren sollte ohne Zusammenarbeit der beiden Länder ist kaum vorstellbar. Auch der Ukraine, wenn man ihr schon helfen will, kann nur durch eine Kooperation aus USA, EU und Rußland geholfen werden. (Die Gasfrage alleine zeigt das ja.) Die EU wird die Ukraine alleine ja gar nicht stemmen können, sie wäre wie eine vierfache DDR**.

Wenn aber NATO wie EU auf ihrer bisherigen Politik stur beharren, werden Feindschaften aufgebaut und einzementiert, deren Sinn überhaupt nicht nachvollziehbar ist. Denn GEGEN WEN will sich das Verteidigungsbündnis NATO in der Ukraine verteidigen?



*Dazu kommt aber der für die NATO ohnehin problematische militärstrategische Wert der riesigen Ukraine, und vermutlich war das ein wesentlicher Grund, mit ihrer Integration in die NATO noch zu warten. Schon 1914-18 hat ja Österreich erlebt, wie schwierig es ist, dieses weite offene Land (Gallizien), das enorme Truppenmengen verlangt, zu verteidigen.

**Auch dort hat man ja, das so nebenbei, durch überfallsartige Neuausrichtung und Zerreißen gewachsener Beziehungen, gerade zur UdSSR, die lokale Volkswirtschaft regelrecht in die Wüste geschickt, und dem Land, seinen Menschen, jede Chance, selbst hochzukommen, damit geraubt. Für ... die Wahl beim King Royal, ob mit oder ohne Käse. 

²Die amerikanischen Truppen konnten den Rückzug aus Afghanistan guten Teils nur über russisches Territorium durchführen.

³Erst die Einmischung Rußlands, das dem Iran technische Hilfe durch Reaktortechnik anbot, und durch diesen klugen Schachzug gleichzeitig ein allfälliges "Atomwaffenproblem" kontrollieren konnte, hat es den USA ermöglicht, ohne Gesichtsverlust aus einer Situation auszusteigen, in die sie sich durch überzogene Aggressivität gegen den Iran gebracht hatten, und die nur noch durch Krieg zu lösen gewesen wäre. Denn keinem Land der Welt kann die friedliche Nutzung der Atomenergie (wie immer man dazu stehen mag) von einem anderen Land verboten werden. Einfach davon auszugehen, daß man die atomaren Abfälle durch Wiederaufbereitung auch für Atomwaffen nützen KÖNNTE, war nur der israelisch-amerikanischen Hysterie zuzuschreiben.




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