Das 19. Jahrhundert hat vom Museum gelebt; auch wir tun dies noch, ohne dabei zu bedenken, daß es dem Besucher eine vollkommen neue Beziehung zum Kunstwerk aufgezwungen hat. Ihm ist es zum guten Teil zuzuschreiben, wenn die Kunstwerke [...] ihrer eigentlichen Funktion enthoben und dafür in Bilder verwandelt sind: selbst die Bildnisse sind diesem Verwandlungsprozeß nicht entgangen.
Sind Cäsars Büste oder Karl V. zu Pferde immer noch Cäsar und Karl V., so ist der Herzog von Olivarez nur noch Velazquez. Was kümmert es uns noch, er der Mann mit dem Goldhelm, wer der Mann mit dem Handschuh gewesen ist? Sie heißen für uns Rembrandt und Tizian. Ein Portrait ist nicht mehr in erster Linie Abbild eines bestimmten Menschen.
Bis ins 19. Jahrhundert hingegen war jedes Kunstwerk, ehe es als solches gewertet wurde - ja, UM überhaupt als solches gewertet zu werden - Abbild von etwas Existierendem oder auch Nichtexistierendem. Reine Malerei war die Malerei allein für das Auge des Künstlers, oft war sie auch noch Dichtung. Zu gleicher Zeit aber, als das Museum dem Kunstwerk seine ursprüngliche Funktion nahm, löschte es in nahezu allen Portraits (selbst wo diese ein nur Geträumtes zeigten) fast alles Modellhafte.Für das Museum gab es kein Palladium mehr, keine Heiligen, keinen Christus, keine Objekte der Verehrung, der Ähnlichkeit, der Phantasie, des Besitzes oder des Schmucks: dafür hat es nun Abbilder von Dingen, die etwas anders als die Dinge selbst sind und gerade auf diese spezifische Unterschiedenheit ihre Daseinsberechtigung gründen.
[Somit ist} die Welt der Bilder auf dem besten Wege dahin, zur Autonomie der sakralen Figuren zurückzufinden.
Damit aber ist die moderne Kunst im Begriff, sämtliche bisherige Bild- und Kunsttradition durch Überlagerung auszulöschen. Denn ihr Anspruch läßt alles bisher Dagewesene verblassen. Die moderne Kunst, die Kunst des 20. Jahrhunderts steht nicht mehr im Dienste von Surrogaten des Absoluten, soll also das Transzendente nicht mehr gegenwärtig machen, hat nicht mehr jenen Dialog mit dem Absoluten, den sämtliche bisherige Kunst hatte. Sie ist für die Künstler hingegen Nachfolgerin des Absoluten. Sie ist selbst absolut.
Aber gerade darin ist sie keine Religion, denn sie führt nicht weiter. Sie ist dafür ein Glaube. Sie ist nicht selbst etwas Sakrales, sie sucht sogar das Gegenteil zu erreichen, sie versucht sich in den Staub zu werfen, sich dem Staub anzugleichen. Indem sie Aufgaben des Profanen übernehmen will, medizinisch-psychologische Therapie sein will, Pädagogik oder Didaktik, die einem profanen Zweck dient.
Und kämpft umgekehrt und zugleich durch die Irrationalität und die Suche nach dem Außergewöhnlichen um des Außergewöhnlichen willen (dem eine Funktion im Dienste des Menschseins oder -werdens zugeschrieben wird) um einen Abstand zu einer unrein gewordenen, verneinten Welt durch ihre Absage an die Erscheinungswelt. Deren Deformationen aber wesentlich anderen Empfindungen gehorchen als jenen, aus denen die Kunst der Naturvölker oder selbst noch die Romantik gelebt hat.
Seit den Tagen Sumers bis zum Zerbrechen der Christenheit hat eines der Kunst noch ihre Richtung gegeben: Sie war Ausdruck für lebende oder tote Götter, für Testamente oder Sagen. Damit haben die Künstler die Welt der Menschen an die der Götter und an das All gebunden.
Damit aber will diese moderne Kunst brechen. Und kommt doch nicht über jenen Punkt hinaus, in dem ihr Werkschaffen diesen Bruch selbst thematisiert, sich selbst thematisiert.
Aber damit kann sie sich natürlich nicht begnügen. Zu sehr spürt sie das Fehlen der Dimension des Wirksamen, also des Wirklichen, als der Anbindung an die Welt selbst, als deren Teil, als Teil eines Gesamten, aus dem er nicht herausfällt. Wie er es durch die notwendig gewordene Ablehnung der Welt nun braucht. Notwendig, weil er sonst sich und sein Werk als in seiner eigenen Wirklichkeit defiziös anerkennen müßte.
Also greift der moderne Künstler nach dem Betrachter. Und will ihn zwingen, diesen Bruch mit zu vollziehen, und sich so dem Künstler anzugleichen, um ihn aus der Verlorenheit seiner Einsamkeit durch Vergemeinung als Gleichmachung zu befreien. Er will ihn aber solcherart in seine eigene Bösheit hineinziehen.
Ergänzung: Um diese Aussagen über die bildende Kunst hinaus in die gesamte Kunst einzubinden sei hingewiesen, daß sich ihre Struktur mit den Inhalten aller übrigen Künste verbinden läßt. Denn was in der bildenden Kunst als Entfremdung zu beklagen ist, zeigt sich etwa in der Dichtkunst in der Verweigerung und Destruktion der dramaturgischen Konstrukte.
Während die Dichtkunst in allen ihren Formen die Formen und Gestalten der Welt begriff, wo jede Form und Gestalt das Schicksal einer Idee in der Zeit (also Geschichte) bedeutete, und die somit wie leere Schalen für je ihren bzw. einen Inhalt offen waren, bedeutet die Ablehnung jeder Form zugunsten einer "Interessantheit", immer aber Entfremdung, das Publikum von der Welt, von SEINER Welt der Erfahrung loszureißen.
Um es aber wo - hinein? zu entlassen. Sodaß die Sphäre der Kunst zu einer Separatsphäre geworden ist, die mit der Wirklichkeit nichts sonst zu tun hat als Freizeitgaudium zu sein. Als Accessoire einer (meist: als DIE Bildungswelt klassifizierten) elitären Lebenswelt.