Dante bestätigt in seiner Comedia/Inferno (Hölle) eine These, die mir schon so manche Beobachtung erhellte: er beschreibt, wie die "Kinder Adams", die Sündigen, Verworfenen, am Rande des Acheron (eines der Hauptflüsse der Unterwelt) sehnsüchtig warten, über-, der ewigen Qual zugeführt zu werden. Kaum legt der Fährmann Charon an, stürzen sie sich aufs Boot.
In der Sehnsucht nach Gerechtigkeit fokussiert sich der ganze Lebensweg eines Menschen. Und so läßt sich auch vieles bei den Menschen erst verstehen, wenn man es unter diesem Blickwinkel sieht: als Flehen um Strafe, als Schrei nach Sühne, nach Gerechtigkeit.
Nur wenigstens das. Denn im ersten Schritt begegnet Dante den Unzähligen, die nicht einmal gerichtet werden. Weil sie ihr Leben als entscheidungslose, laue Schatten gelebt haben, das Gute ebenso wie das Böse vermeidend. Weil sie "von Gott vergessen" werden, ausgespien, wie es an anderer Stelle heißt, bleiben sie in unendlicher Verzweiflung, weil sie nicht einmal sterben können. Der einzige, der sie bei sich haben möchte, ist Satan selbst.
Man erschrickt, denkt man über die auffälligste Charakteristik der heutigen Menschen nach, denn das Leben so vieler (Dante ist übrigens auch bereits entsetzt über die Menge, auf die er dort stößt) scheint sich so aufzulösen: im Versuch, sich aufzusparen, träge und faul; ein ganzes Leben, oft genug gelebt im Bemühen, allem Auszuweichen, bis es in die völlige Blässe versickert ist. Mit einer Hoffnung: wenigstens den Tod zu erleiden, um wenigstens gerichtet zu werden. Denn in der Ignoranz - für Dante ist die Luft in wirrem Geschrei, "wie in einem Sandsturm", gepeitscht - liegt des Menschen Wahnsinn, seine Auflösung, und doch wird er nicht wieder nichts.
Wenn Dante aber schreibt, wie diese von Fliegen und Wespen gepeinigt werden, wie ihre Haut geritzt und verletzt wird, fällt mir das Wort "Borderline" ein: die "Krankheit", in der man sich verletzt, um sich noch zu fühlen. "Die Armen, die zum Leben nie erweckt" heißt es bei Dante. Ohne Schmach, gewiß, aber auch ohne Ehre.
Warten sie nicht auch heute, immer auf Abruf bereit, mit Facebook und Twitter und immer online am Handy, auf Abholung, auf das Leben?
*081010*