Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 8. Oktober 2010

Enteignung der Dichtkunst

Henri Bremond vergleicht den Versuch des Aristoteles (mit dessen "Poetik") einem Staatsstreich: Aristoteles will dem Dichter sein eigentliches Instrumentarium entwinden, und die poetischen Erzeugnisse über die reine Technik herunterbrechen.

Aber gerade die antike Tragödie, das antike Drama, so Bremond, lebt in seinem Zauber nicht von der Stringenz der Handlung und der Spannung, zumindest nicht alleine. Vielmehr kann die Spannung eines Handlungsstranges das Erleben der poetischen Fülle, der Schönheit, verhindern, und der Betrachter (Leser) setzt an die Stelle des Genusses der Fülle - das Erleben eines Nervenkitzels, im Wechsel aus (der Identifikation) erwachsener Spannung (aus Mitleiden) und Entspannung (Erlösung).

***
 
Nach dieser Rechnung würde ein ausgezeichneter Techniker den Poeten überflügeln, würde ein Stückemacher den Poeten unnötig machen. Hollywood ist dafür übrigens ein hervorragendes Beispiel - denn dort überwiegt der Nutzenaspekt, die Dramaturgie, der "Plot", und die Poesie hat keinen Spielraum mehr. Darin unterscheidet sich der europäische Film zweifellos, auch wenn er bereits (vor allem bei den alltäglichen TV-Erzeugnissen) beträchtlicher Hollywoodisierung unterliegt. Während amerikanische Filmemacher, interessanterweise mit der Wanderbewegung des Filmbusiness von Hollywood nach Europa, respektive Deutschland (!), sich in Amerika bemerkenswerte Entwicklungen abspielen - erneut seien an dieser Stelle die Brüder Coen angeführt, die in den Augen des Verfassers dieser Zeilen eine Entwicklung geschafft haben, die weltweit beispiellos ist.

Umgekehrt sind selbst die schwächsten Filme Hollywoods zwar gut konstruiert, und scheinen allen Regeln der dramatischen Technik zu entsprechen, man kann sie mit der Stoppuhr kontrollieren. Aber gerade diesen fünfundneunzig Prozent aller Erzeugnisse fehlt etwas ... das auch das Publikum merkt, so sehr es schon den Nervenkitzel mit dem Genuß durch Poesie verwechselt.

***

Kardinal Newman ist es übrigens, der schreibt: "Es ist nicht wahr, daß bei einem dramatischen Gedicht die Führung der Handlung von solcher Wichtigkeit ist. Der vornehmste Reiz der griechischen Tragödie stammt nicht dorther. Je mehr die Verwicklung gefangen nimmt, um so mehr sind wir behindert, die wahre Poesie des Dramas zu empfinden.

Zwar sei es keine Frage, daß der Handlungsverlauf von großer Bedeutung sei, aber "alleine die Geste, wie der Blinde im Ödipus auf Kolonos sich erhebt und zu jener Stelle geht, wo er sterben muß. Man wird nicht müde, die Stelle wieder und wieder zu lesen." Wie anders die so klug geknüpfte Handlung im König Ödipus, so Newman. Nach dem ersten Genuß sei man gesättigt, und habe kein Verlangen mehr, die Handlung erneut zu erleben - sie sei bekannt, alsohin nur noch ein rein intellektuelles, kein geistiges und kein poetisches Vergnügen.

***

Bremond schreibt dazu: "Muß man etwas so Selbstverständliches noch erklären? Die Wissenschaft handelt vom Allgemeinen, die Poesie vom Besonderen. Die Wissenschaft kennt und regelt nur das Drama an sich. 

Nur: Es gibt kein Drama an sich. Nichts im Ödipus kündigt den Faust an; jedes neue Gedicht ist einzig in seiner Art: Ein Wunder."

***

Aristoteles, schreibt Bremond, habe das poetische Geheimnis nicht geleugnet, das stimme. Aber er habe es einfach verschwinden lassen. Es kommt in seiner Poetik nicht vor. Und dadurch habe er jahrhundertelang prosaischere Geister zur ausdrücklichen Verneinung verführt, die dem Dichter die eigentliche Dichtkunst entwinden wollten. Die gesamte Literaturgeschichte ist durchzogen von diesem Grundkonflikt.

 
*081010*