Aber, fragen die einen, hat nicht der Sozialstaat in den letzten Jahrzehnten alles auf den Kopf gestellt? Geht es uns nicht gut? Herrscht nicht Bildung, statistisch belegt, und Sitte? Herrscht nicht Wohlstand? Herrscht nicht schöpferische Lebenswirklichung, generell? Seht doch, wieviel selbst einfache Leute besitzen?
***
Walther Rathenau beschreibt die Kinder des Proletariats - sie sind aus ihren Umständen herauszuheben, durch Bildung, durch Wohlstand, durch Sozialisierung des Eigentums. Dann sind sie seelisch befreit, dann sind sie schöpferisch.
"Die einen (die Reichen, Anm.) sind gepflegt und standesbewußt, an wohlgesetzte Gespräche Erwachsener gewöhnt, von leidlichen Manieren, leichtem Ausdruck, im Besitz der zarten Bildungsansätze, die aus einer Umgebung von guten Büchern, Kunstwerken, aus Reisen und gelegentlichem Vorunterricht erwachsen, frisch, ausgeschlafen, gut genährt, körperlich geübt. Die anderen (die Armen, Anm.) so ziemlich das Gegenteil. Nun wird von ihnen eine neue Haltung, Sprache und Anschauung verlangt, sie sollen aus einem gewohnten Kreise heraustreten und mühsam, neben dieser Verwandlung, die einen Teil der Kräfte und des Willens verzehren, die neuen Kenntnisse erwerben, die den Gutgekleideten so leicht werden, ja die sie zum Teil schon besitzen."
"Die einen (die Reichen, Anm.) sind gepflegt und standesbewußt, an wohlgesetzte Gespräche Erwachsener gewöhnt, von leidlichen Manieren, leichtem Ausdruck, im Besitz der zarten Bildungsansätze, die aus einer Umgebung von guten Büchern, Kunstwerken, aus Reisen und gelegentlichem Vorunterricht erwachsen, frisch, ausgeschlafen, gut genährt, körperlich geübt. Die anderen (die Armen, Anm.) so ziemlich das Gegenteil. Nun wird von ihnen eine neue Haltung, Sprache und Anschauung verlangt, sie sollen aus einem gewohnten Kreise heraustreten und mühsam, neben dieser Verwandlung, die einen Teil der Kräfte und des Willens verzehren, die neuen Kenntnisse erwerben, die den Gutgekleideten so leicht werden, ja die sie zum Teil schon besitzen."
***
Ein Bruder, eine Schwester des VdZ, sowie deren Ehegatten, alle mittlerweile im Ruhestand, waren als Lehrer, ja alle sogar dann als Schuldirektoren in österreichischen Schulen - Mittelstädte die einen, ländliche Märkte die anderen - tätig. Was sie erzählt haben, wie der Zustand der Kinder ist, die morgens in den Unterricht kommen, so deckt sich ihre Schilderung aufs Wort mit dem, was Rathenau über die Unterschichtkinder vor 100 Jahren schreibt. Aber es ist allgemeine Erscheinung geworden. Geld, Essen, was auch immer, hätten die Eltern dieser Kinder mehr als genug, mit Betonung auf mehr. Ja gerade die Kinder, die im Wohlstand "ersticken", weisen jene Merkmale auf, die Rathenau noch auf die Unterschichte, auf die "Armen" angewendet hat.
Der Sozialstaat hat nichts, aber wirklich nichts verändert, außer daß man sagen muß, daß das Elend allgemein wurde - im Grunde auch das eine Tatsache, die Rathenau als gründlicher Überdenker der volkswirtschaftlichen Auswirkungen gewußt hat: ein über das Land gezogenes gleiches Einkommen bringt allen nie mehr als Auskommen, aber es löscht den Reichtum, den (im eigentlichen Sinn) Mittelstand aus. Er hat die Menschen im tiefsten Proletariat gehalten, und sie mit billigen Glasperlen, getäuscht. Er hat umverteilt, er hat die sinnlose Vergeudung von Ressourcen animiert, aber der sittliche Zustand der Menschen, das entscheidende Kriterium für Kultur und Allgemeinwohl, war ihm gleichgültig.
Die Entwürfe zu einem neuen Staat, zu neuen Ordnungen, zu neuen Volkswirtschaftssystemen, die vor gut 100 Jahren Grundlagen für den Umbau der Staaten in Österreich wie Deutschland waren, sind angetreten unter der Anforderung, "wieder Menschen aus den Arbeitstieren" zu machen, wie Rathenau es formulierte.
Sind wir heute wirklich wieder mit Menschen konfrontiert? Oder haben wir nur die Bewertungsmaßstäbe ausgetauscht? Könnten einem die Dinge nicht so erscheinen, daß die großen Ideen, die allesamt vorgaben, daß es ihnen um die Seele des Menschen ging, darum ging ihn von Sklaverei und Not zu befreien, den Menschen paradoxerweise weil auf andere Weise benützt haben - um diese Ziele, umgebrochen aber auf gewisse technische Quantitäten, zu erreichen.
Und das genau ist das Wesen der Utopie, die sich ausnahmslos in ein Zwangssystem wandelt.
*031010*