Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Rede und Sinn

Der Beinahe-Bundespräsident Deutschlands, Joachim Gauck, sagte anläßlich des 20. Gedenktages zur deutschen Wiedervereinigung, die über fast zwei Stunden ging und bei manchem Zuhörer den Eindruck erweckte, als würde Gauck - etwas unverschämt - die Gelegenheit nutzen, um zu zeigen, daß er die bessere Wahl gewesen wäre, einen bemerkenswerten Satz, den das Fernsehen in seinem Kurzbericht (man berichtete ungleich länger über die Reaktionen auf seine Rede) präsentierte, und der sinngemäß lautete:

"Von wem nichts mehr erwartet wird, der hört auf sein Leben zu leben."

***

Zwei Stunden Redezeit? Es ist Merkmal unserer Zeit, daß dies so selten geworden ist. Daß man gar meint, etwas "zu sagen" wäre dasselbe wie "etwas darstellen". Die Kürze der Botschaft reduziert auch ihren Inhalt. Rathenau zum Beispiel sprach im Sommer 1922 über sieben Stunden vor den ehemaligen Alliierten! Und niemandem kam die Rede zu lang vor, im Gegenteil. Diese Rede, in der Rathenau auf die wirklichen Verhältnisse in Deutschland einging, und darlegte, warum die Reparationszahlungen Deutschland zernichten würden (womit er zweifellos recht behielt, wenn auch mehr indirekt als direkt), erwarb sich der damalige Außenminister eine Vertrauensbasis, die nicht einmal die Nacht-und-Nebelaktion des Rapallo-Pakts mit Rußland (als Notwehr gegen die fast schon paktierte Einbindung Rußlands in die westliche Allianz) wirklich gefährden konnte.

Sieben Stunden. Von keinem Beteiligten ist auch nur andeutungsweise zu lesen, daß ihm das zu lang vorgekommen wäre.

(Rathenau hatte, übrigens, das Amt quasi notgedrungen, aus Pflichtgefühl angenommen, wie er sagte. Auch wenn das, wie man eher annehmen kann, keineswegs so war, aber es stimmt. Er selbst hat sich nicht "beworben" oder ähnliches, es war eher so, daß sich niemand mehr fand, der in solch einer aussichtslosen politischen Lage ein Staatsamt annehmen wollte.)


*141010*