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Freitag, 1. Oktober 2010

Sehnsucht nach Trugbildern

Je größer die Kluft zwischen der Welt, wie wir fürchten daß sie ist, und der gewünschten Welt, dem Ziel "Lebensglück", wird, umso drängender wird der Wunsch, eine Wunschwelt herzustellen. In der Architektur läßt sich dies besonders gut ablesen. Die Neue Zürcher Zeitung titelt hier sogar mit einer "Sehnsucht nach Trugbildern", wie er vor allem bei den großen europaweiten Bauvorhaben bemerkbar sei.

Man möchte die Vergangenheit zum einen auslöschen, aber nur in einem bestimmten Segment, nur gewisse Jahrzehnte. Um zu einem Punkt in die Vergangenheit zurückzureisen, an dem noch alles besser war. Was eine der Wahrheiten des Lebens ist, unbestreitbar, und zwar gerne in irgendeinen dieser schwindeligen Schwachsinnspsychologismen abgedrängt wird - das sei ja nur subjektives Erleben, das sei ja nur typisches Verhalten der eigenen Kindheit gegenüber, etc. etc. - aber nichts anders anzeigt als die Grundbewegung der Welt: von der Quelle in den Orkus ... Vom Paradies zur Hölle. Sodaß das Ende der Welt zum Wunschtraum wird.

Aber so wird europaweit mit gigantischen Geldmitteln an der Illusion gebaut, es sei ja nichts geschehen, in den letzten Jahrzehnten. Es gäbe sie noch, die Bauten und Dinge, die schon verloren sind. Kein historisches und kein natürliches Ereignis hat je existiert. Beim Hohenzollernschloß in Berlin. Beim Limmatmarkt in Zürich. Bei der Kapellbrücke in Luzern. Und die öffentlichen Stellen und die Politik gerät zunehmend unter den (massenpsychologischen) Einfluß, diese "Schonung" mitzuspielen, und jeden gewachsene Realität immer mehr zu "lupfen", sie einem Facelifting zu unterziehen.

Was sich in der Architektur ausdrückt, ist freilich nur eine der Spitzen des Eisbergs, die die Kontur unseres Gegenwartsozeans scheinbar ausmachen. Denn diese Tendenz ist zwar immer gewesen, sie ist keine Erfindung von heute, aber sie drückt eben eine immer gleiche menschliche Haltung und Schwäche aus, die schon das ganze 20. Jahrhundert so deutlich geprägt hat, auch in der Architektur (da hat man den 1902 eingestürzten Campanile am Markusplatz in Venedig auch neu errichtet): dem Wunsch, der Gegenwart zu entfliehen, die immer mehr als bedrohlich empfunden wird, sodaß die Zukunftsangst wächst und wächst, weil immer mehr Bereiche des Lebens unter den Teppich gekehrt, dem Irrationalen überantwortet werden.

Giorgio de Chirico
Besonders Deutschland hatte fünfzig, sechzig Jahren alle Hände voll zu tun, eine Vergangenheit, die in apokalyptischen Katastrophen gewütet hat, ungeschehen zu machen. Erst im "Wiederaufbau" im Westen, dann im "Wiederaufbau" im Osten, wo man die Erinnerung an mittlerweile zwei Regime beseitigen möchte, oder zu müssen meint, indem man Jahrzehnte ungeschehen macht, rückabwickelt, sozusagen.

Aber man schafft nicht historische Stufen wieder. Das ist eine Illusion, eine Scheinwelt eben, die man da errichtet. Man baut lediglich anstelle der wirklichen Gebäude Attrappen, Schaustücke, und verwandelt so eine lebendige Kultur zu einem Museum. Das letzte Stadium, würde man wahrscheinlich sagen können, das Leben inmitten unveränderbarer äußerer Hüllen.

Und dem begegnet der zweite, quasi antipodische Trend in der Architektur - nämlich jener, sich als Architektur selbst völlig aufzulösen, jede wirkliche Charakteristik (vorgeblich, bei Geschäftsgebäuden z. B., um - man stelle sich das alleine vor! welche Haltung daraus spricht! - eine flexible Nutzung der Gebäude zu ermöglichen) seiner selbst zu vermeiden, den Zusammenhang Gebäude - Nutzer - Nutzung auszulöschen, weil jeder die Welt, den Sinnhorizont, in dem er lebt, jederzeit ... bei sich trägt. Sehen kann, was er sehen möchte. Oder, und das ist sogar der überwiegende Teil der Architektur, sich in simplen Rekonstruktionen und Nachäffungen ergeht, worin er sich sogar noch des Lobes eines fast immer kleinkindhafteren Massengeschmacks (Massenphänomene sind Kinderphänomene) gewiß sein darf. Hier im Bilderalbum, dort in einer inexistenten Gegenwart. Beides dieselben Elemente, einer Welt, die aufhört zu existieren, weil sie den Anspruch darauf aufgegeben hat. Womit wir genau das schaffen (!), was die Sehnsucht nach Trugbildern noch weiter verstärkt: weil uns damit auffällt, daß unser Leben keine harmonischen Stadt- und Lebensraumgefüge mehr ergeben. Daß wir alle wie fremde, unabgeholte Pakete in einer Landschaft herumstehen.

Der wirkliche Vorgang wiegt eben schwer: es ist ein Ablösen der Dinge als Erkenntnisobjekte, durch das, was bei Museen und leeren Wänden am Wesentlichsten ist: durch die Beschriftung. Die uns anhält, das Begegnende nicht mehr als es selbst, sondern als Mahnmal, als Symbol seiner selbst (womit es ins Nichts fällt) zu sehen. Wir verzichten auf die wirkliche Welt, die wir mit allen Mitteln fernhalten, der wir unsere Zukunft opfern, und dank "technischer Errungenschaften" sind wir dazu in einem beängstigenden Maß in der Lage, und sind zufrieden, wenn uns eine Welt vorgegaukelt wird. DAS im übrigen, das kostet Energie, das kostet wirklich Energie.

Aber paßt nicht auch das zu uns, der Facebook-Generation? Ist der Vorgang nicht in allen Lebensbereichen längst derselbe?
 
 
*011010*