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Mittwoch, 13. Oktober 2010

Vorgefundenes Abbild der Welt

Die Aufgabe der Philosophie ist, die Differenz in der Erkenntnis der Welt zwischen dem "für mich" und dem "an sich" aufzuheben - was nur für mich erkannt ist, soll es auch für alle sein. Ein wesentliches Wahrheitskriterium. Verstehen ist also ein Einschmiegen des Geistes, ein Vertrautmachen mit einem bereits Daseienden, über die Sinnesbilder aktivierten, aber noch stummen Logos in mir. (Spaemann formuliert deshalb einmal, daß Nicht-Verstehen dort beginnt, und erst dort, wo die Symbolebene - die Sprache - ansetzt. In ihr finden sich bereits vorfertige Bedeutungskomplexe, mehr oder weniger, bzw. irgendwann in einer ersten Verstandeswahrheit, hoffentlich, gegründet, und abgeleitet.)

Die eigentliche Leistung des Denkens liegt in diesem Akt, den wir Vernunft nennen, nicht im bloßen Verstand. Schopenhauer weist darauf hin: Der Verstand ist lediglich passiv. Insofern also ist jeder Erkenntnisprozeß ein Vorgang, der die Vernunft betrifft: Als Einordnen, Beurteilen eines Verstandesarguments. Und dort setzt auch die sittliche Leistung an, denn die Bereitschaft zur Welt als Bereitschaft zur Wahrheit verlangt eine Todesbereitschaft, in der ich meine Haltung zu Verstandesargumenten jederzeit bereit bin, loszulassen. Umgekehrt, zu ihr zu stehen, weil Argumente dafürsprechen.

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Seltsamerweise, und gerade bei jungen Menschen, scheint dieses "Vorfinden" des zu Erkennenden mit einer De-Autorisierung der Vernunftquelle einherzugehen.

Es ist derselbe Irrtum, der die Menschen aus ihren Anlagen her zu dieser oder jener Einschätzung, vor allem aber zu diesen und jenen Rechten ermächtigen soll - während doch das Wesentliche eben jene sittliche Haltung ist, aus der heraus ein Mensch sich immer entfalten muß, als Eigenleistung, die ihm niemand abnehmen kann. Genau das aber dominiert, genau diese Haltung scheint allgemein: Der andere, die anderen sind verantwortlich für die Entfaltung meiner Anlagen. (Was im übrigen deren Entfaltung zugleich als Leistung entwertet, jeden Anspruch auf Ehrung auflöst. Denn WEN, WAS ehre ich dann?)

Ein seltsamer Stolz auf Geburtsvorrechte - so muß man das also nennen. Seltsam, gerade in einer vermeintlichen klassen- und standeslosen Gesellschaft, die Geburtsvorrechte auszuschließen vorgibt. Als suchte man doch den Herkunftsstand, den Platz, der einem zugewiesen WURDE, nicht den, den man sich verdient hat!

Nur eine der vielen Kompensationen für die natürliche Gegebenheit der Zuordnung der Menschen zueinander in identitäts-vorwerfenden Ständen. Kompensation für das, was man Würde nennt: Als Verpflichtung, unter allen Umständen diesen Vorwurf zur realen Gestalt umzusetzen. Eine Kompensation, die als Umkehrbild Hochmut heißt.

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Übrigens liegt genau in diesem genannten Punkt der Grund für die nachgerade "Wut" zu nennende Ausbildungsmanie, die die Menschen heute befallen hat: Wo es in immer kürzerer Zeit immer mehr an Ausbildungen zu sammeln zu gelten scheint, um den Kampf zur Selbstwirklichung zu sparen.

Man bildet nicht mehr aus, was sich frommt, sondern "so viel wie möglich". Man will nicht mehr leben, wie es einem zukommt, sondern "so gut wie möglich", im Sinne von: Ohne eine Grenze nach "oben", im Wohlleben. Also läßt man sich so weit wie möglich tragen, erhöht die Schuldigkeit der Umwelt, um sich dann jeder weiteren Mühe zu entschlagen.

Deshalb diese stumpfen, kryptischen Rufe nach "mehr Geld für die Bildung", bei zum Beispiel gleichzeitiger Gegenwehr gegen jeden Versuch, das bereits ausgegebene Geld effizienter zu verwenden. Was Mühe bedeuten könnte.

Und aus diesem dumpfen Schuldbewußtsein heraus, fordert man es (vor allem aber das Äquivalent GELD) unselektiert für "alle", und seien sie keine Staatsbürger, und sei es gar keine Pflicht dieses Staates, diese Leistung zu erbringen. Und sei es gar nicht im Horizont individuellen erfüllten Lebens. Und das, geschätzter Leser, halte ich für weit weit häufiger, als man heute zu glauben beliebt.

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Wir haben mit dieser krankhaften Bildungssucht eine Metastase herangezüchtet, die Erwartungen hat, die die Gesellschaft, die wir sind nicht mehr erfüllen kann. Während ihre sozialen, vitalen Grundfunktionen nicht mehr leistbar sind. Stattdessen produzieren wir hochinformierte Funktionseliten (denn "Bildung" hätte ja wieder mit Adäquatheit zu tun, um die genau geht es aber heute nicht), die das Leben aller täglich noch weiter erdrosseln.

Überforderung ist übrigens ungleich leichter zu bewältigen, als Unterforderung. Unterforderung zerstört einen Menschen binnen kurzem, denn sie bricht ihn, und sie zu überstehen verlangt eine seelische Größe und Kraft, die immer selten war. Was das zu sagen hat? Es wäre sehr leicht, die ausgeuferte, sinnlose "Bildung" - mit der nämlich die meisten überfordert sind, man lese doch nur die Statistiken und Durchfallquoten, vergleiche das Niveau gleicher Schultypen mit früher, und höre doch auf, die Ergebnisse schönzureden, einem "wenn - dann" und "man müßte" zuzuschieben! - einzudämmen, und es wäre eine Erleichterung für viele, nicht mehr das Surren von Anspruchsmotoren in sich zu hören, die sie in Richtungen zerren, die sie zerreißen, weil sie ihre Grundbedürfnisse überfahren.

 
*131010*