Schon deshalb kann man es nicht von
außen sagen, weil auch diese Beziehung zu den normalen
Lebensbedingungen WESENTLICHES FELD der Reifung ist, ein Merkmal, das
nicht einfach abzutun ist. Sondern wozu man reifen muß! Das gehört
zum künstlerischen Weg! Und man muß sich nach und nach daran
herantasten. So, wie Du es auch bei mir sehen kannst, und auch das
hört nicht auf.
Ich hatte Jahre, (...), in denen ich
buchstäblich gehungert habe. Ich hatte Jahre, in denen ich
Engagements nur angenommen hatte, weil ich mich am Abend, nach der
Vorstellung, am Buffet, das dort immer aufgerichtet war, sattessen
konnte, weil ich mir nichts kaufen hatte können. Ich war im
Obdachlosenheim, und ich war ohne Wohnung, mehr als einmal, und habe
in einer Wohnung eines Freundes gelebt, der sie gerade nicht
gebraucht hat. Ich hatte Menschen, die mir geholfen haben, weil sie
an mich geglaubt haben, und ich hatte Feinde, viele viele Feinde, die
mír oft ganz schwer geschadet, mich verleumdet haben, und so weiter.
Alles das war aber kein unbedeutendes Nebengeräusch, sondern alles
das hat mir in meiner Entwicklung erst das gegeben, an dem ich mich
entwickelt habe und weiter entwickeln werde, denn Künstlertum ist
eine nicht endende Entwicklung. Und jedes Werk ist nur Zeugnis des
Standes dieser Entwicklung zur Freiheit, zur Wahrheit, zur Schönheit.
Wie weit Du jeweils gehen kannst oder
mußt, (...), mußt Du selbst entscheiden. Dafür gibt es keine
Richtlinie. Nur Anzeichen. Etwa im Mut,
der eigentlich hier nur ein Mut der
Verzweiflung sein kann. Weil Kunst etwas ganz Existentielles
sein muß, und das unterscheiden den Laien, der auch mal wo auf eine
Bühne kriecht, vom Künstler. Nicht "Können", das ist ein
häufiger Irrtum der Kleinbürger. (Und fast alle sind Kleinbürger.)
Auch wenn man auf Können nicht verzichten kann, auch das habe ich
versucht, oben darzustellen. Fritz Muliar, zweifellos ein Künstler
als Schauspieler, hat einmal auf die Frage gesagt, ob er jemandem
raten würde, Schauspieler (Künstler) zu werden: "Nein, ganz
sicher nicht. Es sei denn ... er bringt sich sonst um." Das
bringt es auf den Punkt.
Auch das Loslösen von
Sicherheitsbedürfnissen ist also Teil eines, Deines Weges. Mache auf
keinen Fall den Fehler zu tun, zu denken, es wäre ja alles
bedeutungslos und lästig, was Dir begegnet! Sortiere (nicht in
Deinem jungen Alter!) was Relevanz hat und was nicht. Alles ist von
Relevanz, zuerst einmal, es ist ein langer, langer Weg, hier zu
unterscheiden zu lernen. Es wird Dich formen, und NUR das kann Dich
formen, Deinem Werk Inhalt geben. Nimm alles, wie es kommt, und suche
nach dem Wirklichen darin, darum geht es. Denn alles, und das kann
nur die Welt sein, wird Dich Dir und Deiner Berufung zuformen, dessen
kannst Du ganz sicher sein.
Und mehr und mehr wird in Dir
eine Sicherheit wachsen, die Dir andere - und sei es noch so viel
Lob, das man Dir zuschüttet, vergiß das sofort! die Leute haben im
Normalfall keine Ahnung! und hetzen andere gerne und vor allem durch
Lob in Dinge, die sie romantisch finden, aber gar nicht abschätzen
können; Vorsicht vor Freunden! Feinde helfen Dir meist viel mehr -
niemals geben können. Die kann nur aus der Begegnung mit der
Wirklichkeit entstehen. Denn nur so kannst Du Dich in der
Wirklichkeit verankern, und nur das ist es, was man als
"Selbstsicherheit" oder "Selbstbewußtsein"
bezeichnen kann. Die eine Verankerung im Sein ist, weil man seinen
Ort im unendlichen Puzzle der Schöpfung gefunden hat. Und das geht
nur durchs Tun.
Mach nicht den Fehler, "anderen"
oder "Umständen" die Schuld egal wofür und an welcher
Verhinderung zuzuschreiben. Das ist immer Lüge. Du mußt die Berge,
die vor Dir stehen, selbst besteigen und wegräumen, das kann niemand
für Dich tun. Und wenn es jemand tut will er Dich vernichten. Weil
er Dir den Inhalt nimmt, an dem alleine Du das tun kannst, was Du tun
mußt: WERKEN, TUN.
Um irgendwann und immer mehr in die
Lage zu kommen, mehr und mehr so schön zu sein, daß das, was Du
tust, schön IST. Weil alles nach seinem Hervorbringer wird und von
ihm erzählt. Wir selbst aber, Angelika, Du, ich, jeder Künstler -
wir sind völlig unbedeutend. Nur wenn wir nichts werden, kann sich
in uns ganz die Wirklichkeit der Welt spiegeln. Wer etwas gelten
will, soll in den Zirkus gehen und dort zeigen, was er kann.
Und dort beginnt es überhaupt erst
wesentlich zu werden. Denn nicht nur das Gelingen, JEDES
Gelingen ist ein Geheimnis ("kennen" tut man nur
das, was schief läuft). Sondern die Welt selbst ist ein Geheimnis.
Aber ein Geheimnis ist nicht das, was ich nicht verstehe, also
irrational oder gar willkürlich! Sondern ein
Geheimnis ERHELLT die Welt. Und dieses Geheimnis ist das Sein
selbst, an dem alles Anteil hat, was "es gibt", sonst wäre
es nicht, und das es deshalb auch verlieren kann. Denn nichts
Irdisches IST das Sein, es HAT es nur, und kann es verlieren. Sonst
wäre es ja Gott.
Ich hoffe, meine Tochter, ich konnte
Dir Anregungen zu diesen schwierigen, dabei doch so klar
durchdringbaren Fragen geben. Erschöpfend ist das Gesagte ganz
sicher nicht, denn die Aspekte, die wechselseitigen Bedingtheiten von
Erkenntnissen über die Welt, den Künstler, die Kunst sind nicht nur
quasi unendlich, sondern zerstäuben irgendwann ins nur noch
Fühlbare, und dort beginnt (eine ganz ganz heikle Frage, übrigens!)
das Gewußte.
Denn die Welt ist in ihrem Grund -
Poesie. In allen Dingen, in allen menschlichen Angelegenheiten.
Unsichtbar, aber auch eigentlich unsagbar, nur hinweisbar, ist alles
Gewußte. Durch die Symbole, die die Welt nicht einfach "hat",
sondern - die sie ist. Wie sonst also kann der Künstler die Welt
darstellen, denn als in den konkreten Dingen, von denen er klar
machen kann weil er es erkennt, daß sie Symbole sind?
Dein
Vater
*040717*