Dieses Blog durchsuchen

Samstag, 29. Juli 2017

Brief an eine Tochter (6)

Schon deshalb kann man es nicht von außen sagen, weil auch diese Beziehung zu den normalen Lebensbedingungen WESENTLICHES FELD der Reifung ist, ein Merkmal, das nicht einfach abzutun ist. Sondern wozu man reifen muß! Das gehört zum künstlerischen Weg! Und man muß sich nach und nach daran herantasten. So, wie Du es auch bei mir sehen kannst, und auch das hört nicht auf.
Ich hatte Jahre, (...), in denen ich buchstäblich gehungert habe. Ich hatte Jahre, in denen ich Engagements nur angenommen hatte, weil ich mich am Abend, nach der Vorstellung, am Buffet, das dort immer aufgerichtet war, sattessen konnte, weil ich mir nichts kaufen hatte können. Ich war im Obdachlosenheim, und ich war ohne Wohnung, mehr als einmal, und habe in einer Wohnung eines Freundes gelebt, der sie gerade nicht gebraucht hat. Ich hatte Menschen, die mir geholfen haben, weil sie an mich geglaubt haben, und ich hatte Feinde, viele viele Feinde, die mír oft ganz schwer geschadet, mich verleumdet haben, und so weiter. Alles das war aber kein unbedeutendes Nebengeräusch, sondern alles das hat mir in meiner Entwicklung erst das gegeben, an dem ich mich entwickelt habe und weiter entwickeln werde, denn Künstlertum ist eine nicht endende Entwicklung. Und jedes Werk ist nur Zeugnis des Standes dieser Entwicklung zur Freiheit, zur Wahrheit, zur Schönheit.
Wie weit Du jeweils gehen kannst oder mußt, (...), mußt Du selbst entscheiden. Dafür gibt es keine Richtlinie. Nur Anzeichen. Etwa im Mut, der eigentlich hier nur ein Mut der Verzweiflung sein kann. Weil Kunst etwas ganz Existentielles sein muß, und das unterscheiden den Laien, der auch mal wo auf eine Bühne kriecht, vom Künstler. Nicht "Können", das ist ein häufiger Irrtum der Kleinbürger. (Und fast alle sind Kleinbürger.) Auch wenn man auf Können nicht verzichten kann, auch das habe ich versucht, oben darzustellen. Fritz Muliar, zweifellos ein Künstler als Schauspieler, hat einmal auf die Frage gesagt, ob er jemandem raten würde, Schauspieler (Künstler) zu werden: "Nein, ganz sicher nicht. Es sei denn ... er bringt sich sonst um." Das bringt es auf den Punkt.
Auch das Loslösen von Sicherheitsbedürfnissen ist also Teil eines, Deines Weges. Mache auf keinen Fall den Fehler zu tun, zu denken, es wäre ja alles bedeutungslos und lästig, was Dir begegnet! Sortiere (nicht in Deinem jungen Alter!) was Relevanz hat und was nicht. Alles ist von Relevanz, zuerst einmal, es ist ein langer, langer Weg, hier zu unterscheiden zu lernen. Es wird Dich formen, und NUR das kann Dich formen, Deinem Werk Inhalt geben. Nimm alles, wie es kommt, und suche nach dem Wirklichen darin, darum geht es. Denn alles, und das kann nur die Welt sein, wird Dich Dir und Deiner Berufung zuformen, dessen kannst Du ganz sicher sein.

Und mehr und mehr wird in Dir eine Sicherheit wachsen, die Dir andere - und sei es noch so viel Lob, das man Dir zuschüttet, vergiß das sofort! die Leute haben im Normalfall keine Ahnung! und hetzen andere gerne und vor allem durch Lob in Dinge, die sie romantisch finden, aber gar nicht abschätzen können; Vorsicht vor Freunden! Feinde helfen Dir meist viel mehr - niemals geben können. Die kann nur aus der Begegnung mit der Wirklichkeit entstehen. Denn nur so kannst Du Dich in der Wirklichkeit verankern, und nur das ist es, was man als "Selbstsicherheit" oder "Selbstbewußtsein" bezeichnen kann. Die eine Verankerung im Sein ist, weil man seinen Ort im unendlichen Puzzle der Schöpfung gefunden hat. Und das geht nur durchs Tun.
Mach nicht den Fehler, "anderen" oder "Umständen" die Schuld egal wofür und an welcher Verhinderung zuzuschreiben. Das ist immer Lüge. Du mußt die Berge, die vor Dir stehen, selbst besteigen und wegräumen, das kann niemand für Dich tun. Und wenn es jemand tut will er Dich vernichten. Weil er Dir den Inhalt nimmt, an dem alleine Du das tun kannst, was Du tun mußt: WERKEN, TUN.
Um irgendwann und immer mehr in die Lage zu kommen, mehr und mehr so schön zu sein, daß das, was Du tust, schön IST. Weil alles nach seinem Hervorbringer wird und von ihm erzählt. Wir selbst aber, Angelika, Du, ich, jeder Künstler - wir sind völlig unbedeutend. Nur wenn wir nichts werden, kann sich in uns ganz die Wirklichkeit der Welt spiegeln. Wer etwas gelten will, soll in den Zirkus gehen und dort zeigen, was er kann.
Und dort beginnt es überhaupt erst wesentlich zu werden. Denn nicht nur das Gelingen, JEDES Gelingen ist ein Geheimnis ("kennen" tut man nur das, was schief läuft). Sondern die Welt selbst ist ein Geheimnis. Aber ein Geheimnis ist nicht das, was ich nicht verstehe, also irrational oder gar willkürlich! Sondern ein Geheimnis ERHELLT die Welt. Und dieses Geheimnis ist das Sein selbst, an dem alles Anteil hat, was "es gibt", sonst wäre es nicht, und das es deshalb auch verlieren kann. Denn nichts Irdisches IST das Sein, es HAT es nur, und kann es verlieren. Sonst wäre es ja Gott.

Ich hoffe, meine Tochter, ich konnte Dir Anregungen zu diesen schwierigen, dabei doch so klar durchdringbaren Fragen geben. Erschöpfend ist das Gesagte ganz sicher nicht, denn die Aspekte, die wechselseitigen Bedingtheiten von Erkenntnissen über die Welt, den Künstler, die Kunst sind nicht nur quasi unendlich, sondern zerstäuben irgendwann ins nur noch Fühlbare, und dort beginnt (eine ganz ganz heikle Frage, übrigens!) das Gewußte.
Denn die Welt ist in ihrem Grund - Poesie. In allen Dingen, in allen menschlichen Angelegenheiten. Unsichtbar, aber auch eigentlich unsagbar, nur hinweisbar, ist alles Gewußte. Durch die Symbole, die die Welt nicht einfach "hat", sondern - die sie ist. Wie sonst also kann der Künstler die Welt darstellen, denn als in den konkreten Dingen, von denen er klar machen kann weil er es erkennt, daß sie Symbole sind?

Dein

Vater




*040717*