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Samstag, 1. Juli 2017

Ein Augenblicksbericht aus Ungarn (1)

Es sind nur Beobachtungen, die großen Schlüsse zieht der VdZ noch nicht. Aber was ihm zuletzt mehr und mehr zugetragen wird, was er selbst sieht, macht doch manche Sorgen und erweckt Mitgefühl mit den Menschen. Die Rede ist von Ungarn. Noch vor drei oder gar zwei Jahren war ein gewisses Frühlingslüftchen zu spüren. Optimismus schien die Oberhand zu gewinnen, die Ungarn schöpften irgendwie wieder Luft. Aber dieser zarten Zuversicht ist nun nicht einfach Pessimismus, sondern eine weit verbreitete Resignation gefolgt. Denn - es ändert sich nichts! Gleichzeitig hat der VdZ schon mehrfach gehört, daß die Mietpreise für Geschäftslokale in phantastische Regionen abwandern, und jedem Unternehmen die Luft nehmen.

Und aus Reisen in einige Staaten des ehemaligen Ostblocks hat der VdZ den Eindruck, daß diese Lohnstagnation alle diese Staaten betrifft. Es muß also etwas Allgemeines, etwas in den Überlegungen diese Volkswirtschaften "zu beleben", schiefgelaufen sein.

Im Gegenteil, die einfachen Ungarn, das "Volk", hat es immer schwerer, überhaupt zu überleben. Die Löhne sind nach wie vor auf demselben Niveau wie vor drei Jahren, und das heißt in Magyarország ein monatliches Einkommen von dreihundert Euro für einfache Arbeiter. Hochgehälter liegen nach wie vor bei sechs- oder siebenhundert Euro, und die Rentner müssen sich mit oft kaum zweihundert Euro bescheiden.*

Doch die Preise sind gestiegen, kräftig sogar, zuletzt durch eine Mehrwertsteuererhöhung, die bekanntlich ja die Konsumenten alleine trifft. Wie sehr die Ungarn Überlebenskünstler sind, wie dieses Wunder des Überlebens bei so niedrigen Löhnen nur funktioniert, weil irgendwie jeder jemanden kennt der jemanden kennt der dies oder das billig bei der Hand hat oder selbst produziert, hat der VdZ bereits früher geschildert. Denn der Forint ist stark gefallen, und er fällt derzeit weiter. Das heißt, daß zwar die Exporte billig werden - gut für die Konzerne, siehe unten, denn Ungarn hat VOR der Machtübernahme durch die FIDESZ so gut wie NICHTS mehr produziert, alles nur noch importiert - aber sich die Importe verteuern. Und das heißt: alle Konsumgüter, auch solche des alltäglichsten Bedarfs.

Zugleich sinkt die Qualität der inländischen Produkte weiter, auch wenn man mit Maßnahmen wie dem Siegel "Magyqar Termek" ("Ungarische Qualitätsware") dagegen ankämpft, und sei es als Appell an den Nationalgeist: Leute, kauft ungarisch! Gutes, klagen manche Ungarn, werde aber nach wie vor exportiert. Die Ungarn selbst bekämen den Ausschuß, auch von ihren eigenen Firmen. Gleichzeitig ist das private Verschuldungsniveau in Ungarn nicht merklich zurückgegangen, trotz so plakativer Maßnahmen wie die den Banken aufgedrückte Auslösung von Krediten in Schweizer Franken, dessen Steigen immerhin theoretisch dreihunderttausend Ungarn sowieso unrettbar verschuldet hatte. Es wäre interessant, wieviel Ungarn es sich überhaupt hatten leisten können, unter anderen Bewertungskriterien nämlich, diese Kredite (selbst zu günstigeren Währungskursen) umzutauschen.

Die Ungarn sind nämlich europaweit gesehen Spitzenreiter in Privatkrediten, mit einer Schulden-/Rückzahlungsrate, die je nach Rechnung bis zu siebzig Prozent der Haushaltseinkommen ausmacht. Naja, der Ungar war eben immer "Lebenskünstler", schon in der Habsburger-Monarchie, Fakten haben ihn immer nur marginal gestört.

Angesichts der zuletzt andrängenden Alltagseindrücke muten somit einem in Ungarn lebenden Österreicher bzw. Deutschen mit einer etwas eigenen Sichtweise Jubelmeldungen der Medien seltsam an, denen gemäß es in den letzten Jahren zu Ansiedlungen internationaler Konzerne gekommen sei, die Gesamtperspektive also glänze. Darunter wird als Paradebeispiel das Werk von Mercedes in Kecskemet gerne und oft zitiert. 

Ja, gewiß, da sind jeweils hunderte Arbeitsplätze "geschaffen" worden, ja, gewiß, die Erwerbsrate (die zum Zeitpunkt der Machtübernahme durch die FIDESZ in Ungarn bei europaweit sensationell niedrigen fünfzig Prozent lag, fünfzig Prozent leben direkt vom Staat) ist leicht gestiegen. Aber es könnte einen der Verdacht beschleichen, daß sich Ungarn - oder daß Ungarn von der FIDESZ, der Regierungspartei unter Victor Orban - zu billig verkauft hat bzw. verkauft wurde.

Denn es wäre höchst verwunderlich, wenn das Argument der niedrigen Löhne gerade für solche Konzerne wie Mercedes, die heute wie Heuschreckenschwärme auf der Wanderung die Arbeitsmärkte der Welt abfressen, also dort jeweils gerade produzieren, wo es im Moment eben die niedrigsten Löhne gibt, nicht auch für ihre Niederlassungen in Ungarn das Hauptargument gewesen wäre und die FIDESZ, die ja Wechsel, Wandel zum Besseren versprochen hatte, das nicht auch ins Treffen führte, um Erfolge aufzuweisen.

Die heutige Arbeitsorganisation in der Industrie (man denke nur an ISO 9000) hat ja bewirkt, daß gerade in Industrieunternehmen Arbeit durch oft sehr intelligente Zerlegung in wiederholbare Happen zur bloßen Funktion, der Arbeiter zum bloßen, jederzeit ersetzbaren Ablauferhalter wurde. Arbeiter sind heute bloße Funktionsträger, nur ein Teil - der nicht gerade den eigentlichen Menschen ausmachende Teil! - wird verlangt.

Gleichzeitig mehren sich die Berichte in den Ohren des VdZ, mehren sich die Aussagen, daß die Solidarität der Ungarn - in früheren Zeiten eine wahre Legende, so daß jeder Ungarn immer und überall und auf der ganzen Welt ein wahres Netzwerk von heimatbewußten Landsleuten zur Verfügung hatte - in sensationell kurzer Zeit völlig zerbröckelt ist. Er hat schon mehrfach gehört, daß Ungarn, die den Sprung ins Ausland (namentlich Wien) geschafft haben, von ihren Landsleuten nicht nur nichts mehr wissen wollen, sondern sich sogar von ihnen explizit distanzieren.

Ja der VdZ hat sogar immer mehr Stimmen gehört, daß die Ungarn froh sind, wenn sie ihr Land verlassen können. Stimmen, die gar sagen: Sie wären froh, woanders, in Österreich, in Deutschland etwa, geboren worden zu sein. Die sich in Ungarn einfach nicht mehr wohlfühlen, weil es sich dort, wie sie sagen, nicht mehr leben läßt. Was ihm immer wieder - von Ungarn selbst! - zu Ohren kam: Überall herrsche nur noch Geldgier, Falschheit (vor allem Zahlungskräftigen wie westlichen Ausländern gegenüber), und schreckliche Verlogenheit.

Der VdZ hat schon mehrfach hier darüber geschrieben. Es fehlt allerorten an "natürlichem Wertgefühl", am Wissen um Zusammenhänge von Preis, Geld und Wert, also Arbeit. Mittlerweile scheinen sich "gefühlt" alle Ungarn unterbezahlt zu sehen. Weil ihnen nicht klar ist, daß das mit so vielem sonst noch zusammenhängt, sie oft gar nicht "unterbezahlt" sind, auch wenn sie nominell viel weniger kriegen als gleichlautende Berufe wie etwa in Österreich. Preise, Löhne sind ganz sicher immer nur in einem regionalen, lokalen Rahmen, als Teil eines Gesamtgeflechts zu sehen.

Auf die Idee, daß Preis oder Lohn mit einer tatsächlich qualifizierbaren Leistung im Rahmen eines gewissermaßen "allgemeinen, universalen Menschseins", demgemäß irgendwie alle Preise der Welt irgendwie Adäquanz zur Volksleistung haben, mit einem gewissermaßen und erstaunlich objektiven Rahmen also zu tun haben, scheinen viele Ungarn gar nicht zu kommen. Da wollen Konvertiten - Kommunisten, aber eigentlich nur ... "lebenslustige Ungarn" - also nun ihren habituellen Kommunismus bzw. Schlamperismus als "Was kümmert es mich? Hauptsache der Gulyaskessel mit dem zusammenimprovisierten Inhalt brummt!" im Kapitalismus ausprobieren, einer völlig anderen Baustelle. Man will schon anders leben, ja, aber gemäß der Kriterien anderer, unvereinbarer Prinzipien anerkannt und vor allem hochgestellt werden. 

Wie soll das gutgehen? Es kann nicht gutgehen. Und die Ungarn sollten endlich aufhören, das zu versuchen, und endlich zu sich selbst finden. Als das, was sie sind: Ein phantastisches, liebenswertes, poetisches, halt oft auch zügelloses Volk einer phantastischen, grenzenlosen Landschaft. Aber diese Fragen wagt in Ungarn keiner zu stellen, diese Fragen WILL sich in Ungarn keiner stellen. Denn der Maßstab ist schon das Problem - ein universalistisches Menschentum. Darüber ein anderes Mal mehr, es handelt sich um ein ganz sublimes Problem der Geistesverwirrung, die seit Jahrhunderten betrieben wird. 


Morgen Teil 2) 
Die Ungarn sind unglücklich, weil sie, die völkisch so eigen sind, sich mit den Augen eines ihnen immer fremden Westens beurteilen. Und da schmieren sie nun völlig ab.



*280517*