Die Zeit heilt keine Wunden. Sie läßt sie sogar erst aufbrechen weil sie jeden Versuch, Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit zu schaffen, als das ausblühen läßt, was es ist. - Man sagt, daß die Zeit alle Wunden heile. Als wäre das so einfach wahr! Hier hat sich vieles sogar wieder gedreht, das meinte nicht nur die Glatzerin vom Hotel am alten Preußischen Tor. Das rund um die Brücke eine Bieleumbauung bietet, die mehr an echter Romantik hat, als sich Filmregisseure je vorstellen konnten. Da unten meint man jeden Augenblick die Heidelinde zu sehen, die die Wäsche im Fluß spült, und da drüben den ollen Heinmück, der mit zerfleddertem Hut und löchrigen, hochgekrempelten Hosen einen Weißfisch im Flachwasser zu fangen versucht. Heute jedenfalls hat man denn auch wirklich den Eindruck, daß man sich allmählich wagt, das Deutsche zu hassen, das mit den nun so freizügig möglichen Besuchern (wir kannten aber damals noch nicht Corona; dieser Seitenhieb muß sein) daherkommt, als wäre er hier mehr zu Hause als ... ja, als was, als wer? Das Dumme ist nämlich, daß das tatsächlich so sein könnte. Aber wer würde das noch je zugeben wollen, der nicht in Gefahr geraten wollte, zum Revisionisten und Neo-Nazi gestempelt zu werden?
Die jungen Polen wollen davon aber aus anderen Gründen nichts mehr wissen, ja die kennen es gar nicht mehr. Die sind also an Nazi-Etiketten und den alten Deutschen überhaupt nicht mehr interessiert. Und die historischen Aufschriften - neben polnisch in englisch und tschechisch verfaßt - kennen auch nur noch die "böhmische Vergangenheit von Glatz", und die ist in den Augen der Jungen ... tschechisch. Was für Unbildung. Als hätte böhmisch je etwas mit Ethnie zu tun gehabt, als es noch böhmisch war, und nicht "tschechisch"? Und Glatz war Böhmen, gewiß, aber nie tschechisch. Oder .... ach, lassen wir das.
Widmen wir uns besser wieder dem Kirchenbau in Eisersdorf. Der im Zentrum eines Innenhofes steht, der von einem zum größten Teil überdachten Rundgang umlaufen wird, den man ehedem sicher auch für Prozessionen genützt hatte, nicht nur um an Allerseelen nicht naß zu werden. Und an dessen Wänden erstaunlicherweise doch noch die alten Grabplatten mit den schlesischen Namen angebracht geblieben sind. Der eigentliche Friedhof, der wie früher überall rund um die Kirche lag, und den der Gang als Teil des Kreises einer ehemaligen Wehrmauer umschloß, zeigt kein einziges deutsches Grabmal mehr. Die Verlegung des Friedhofs außerhalb der Mauern wirkt deshalb auch wie eine verschämte Rechtfertigung. Seht, sogar wir, also warum nicht auch ...
Übrigens: Ich habe mich immer gewundert, daß die Friedhöfe selbst in alten Städten immer innerhalb der Grenzmauern lagen, nie außerhalb. Wo das Niemandsland, der Bereich der Rechtlosen, der Müllabladeplatz, die Unordnung herrschte. Anders als die Häuser für Bedürftige und vor allem Kranke, die man gerne vor die Mauern gesetzt hatte. Sollte der Feind sich damit befassen, wenn er kam. Und selbst die Türken, wird erzählt, haben die Kranken geachtet und für sie gesorgt, selbst wenn sie dem Feinde angehörten, und selbst wenn sie jeden Mann, der aufrecht stehen konnte, um einen Kopf kürzer machten, und jede Frau die zwei Beine (also einen Spalt) hatte, ihrer Würde beraubten.
Aber die Gräber, die überließ man keinem Feind. Die gehörten überall zum innersten Verteidigungsbezirk, und die sollte niemand schänden und entwürdigen. Die verteidigte man sogar mit dem Leben, und für die blutete man, selbst wenn nichts mehr da war, was es noch zu hüten gegeben hätte, als das eigene Leben. In den Vorfahren lagen die eigene Ehre und der persönliche Daseinssinn, so eng muß man das wohl begreifen.
Aber hier im Rundgang sind die alten Grabplatten noch, eine neben der anderen, ich staune. Und zu meiner eigentlichen Verblüffung tragen sie zu guten zwei Dritteln mir aus den Ahnenaufzeichnungen bekannte Namen. Sie erzählen mir damit eindrucksvoll, wie eng und tief meine Vorfahren - und damit ich selbst - hier verwurzelt war, und seit wie vielen Jahrhunderten. Wer ich bin? Wo ich herkomme? Hier steht es in Stein gemeißelt, sozusagen! Da liegen sie, die Bäcker, Müller, Gasthausbetreiber oder Bauern mit oft großen Höfen, oder die Einzelhändler, man schrieb das früher immerzu den Namen, denn es geht bei den Namen ja um Menschen, also um Identitäten! Die Tschöpes, die Fabers, die Hatscheks und wie sie alle hießen, die zum Wohlstand in der Grafschaft beigetragen hatten, sie liegen hier und man kann noch von ihnen erfahren.
Seltsam, daß man genau das läßt. Denn ich selbst fühle im Hiersein eine Art von Anrechtsgefühl in mir aufstehen, das die Arbeiter wie Fremde sehen läßt, die in meinem Eigentum werken, in dem ich aber stehe wie der, dem es nach wie vor gehört ... ach, lassen wir das.
Jedenfalls gab es hier bis zum Kriege schönen, wenn auch nicht übermäßigen Wohlstand, man kann es heute noch erkennen. Nicht übermäßig weil es auch Armut gab. Und sogar Elend. Ja, man muß es sagen.
Aber nicht nur der Wohlstand war groß genug, daß sich die Grafschafter leisten konnten, jeden, wirklich jeden Winkel ihres kleinen Garten Eden, der wie eine Schüssel ringsum von Mittelgebirge umgeben ist, zu einem Kleinod zu machen, an dem sich alle Sinne ergötzen. Zum kulturellen Erbe haben die Armen ganz real und handfest mehr beigetragen, als die Geschichtsschreiber, die ja oft nur simple Erbsenzähler sind, es sich vorstellen können. Die Armen! Sicher, nicht die Elenden. Und Elende gab es in Schlesien seit dem Einzug des protestantischen Kapitalismus leider mehr als zuträglich.
Gerhart Hauptmann, den manche als Sozialisten, ich aber als Heimatdichter und damit -kenner sehe (wie auch immer, es hat ihm eine Sonderstellung selbst inmitten der anbrandenden Wellen der Roten Armee 1945 eingebracht, man wußte selbst in Moskau von ihm) hat von Elendserscheinungen wie epidemisch verbreitetem Inzest als "schlesische Krankheit" gesprochen. Man kann es in seinen Werken erkennen, wenn man die mit spitzer Brille zu lesen versteht. Deren Ursachen aber in den entwürdigenden Lebensumständen lagen, die (das hat Hauptmann freilich nicht eingestanden) in diesem elenden Preußentum angelegt waren. Das nicht auf Sein, sondern auf kantianisch edelgefaßtem Plappertum beruht.
Apropos Erbsen. Die Gasthäuser des heutigen Glatz, das so böhmisch sein will, kennen kaum noch typisch schlesische (also böhmische, wo wäre der Unterschied) Gaumenfreuden. Bis auf zwei, drei Dauerbrenner, gewissermaßen, wohl auch eher für die Deutschen, die doch noch kommen, und die auch nur in der Rathausstube, gibt es nichts von den Gerichten, die ich von meiner Mutter Erzählungen, aber auch aus der selbst erlebten Küche kennte. Dafür sind von den zwölf oder dreizehn Restaurants der Glatzer Innenstadt gezählte sieben Pizzerien.
Auf dem Weg über den Innenhof mußte ich, an den Arbeitern vorbei, die neue Wege anlegten und dazu tiefe Rinnen gegraben hatten, über die seitlich gelagerten granitenen Saumsteine und betonklebrige Mörtelkästen steigen. Überall in der Grafschaft wird ja saniert, auch wenn es wie eine unerschöpfliche Aufgabe wirkt, wie im gesamten ehemaligen Ostblock. Die letzten alten eigentlichen Gräber waren aber wohl schon längst in das neu angelegte Gräberfeld draußen verlagert worden.
Oder hatte man sie entsorgt? Denn Karner sah man keinen. Nein, dazu wirkte alles auch heute noch zu echt katholizistisch und gar fromm, bis zum unerläßlichen Johannes Paul II.-Farbdruck im Altarraum. Aber wie an anderer Stelle schon gesagt, es fand sich kein deutscher Name auf den durchweg neueren Grabsteinen außerhalb der Mauern des Kirchenplatzes.
Aber die Mitvierzigerin mit dem Kopftuch war nett. Zwar zurückhaltend, aber freundlich, und als ich eine begehbare Türe ins Innere der Kirche suchte, wies sie mir eine. Und so stand ich schließlich auch vor jener mir fast vertrauten Empore, auf der wie in so vielen Kirchen im katholischen Niederschlesien mein Urgroßvater zur Mitternachtsmette das "Transeamus" hinausgesungen hatte. Jedes Jahr. Ein Amt, das jemand ausführte, solange er konnte, um es dann zurück- oder weiterzugeben, so hatte es in den Worten der Mutter jedenfalls mitgeklungen.
"Heast Seppale ned de Englaan singa?!" "Oba geh, du heeast doch nooa de Schoafschella klinga" "Noa, duss sunn de Engla, de singan!" "Juu, itz heer i's oa. Wuss singan se dean?" (Chor setzt wieder ein) "TRANSEAMUS ..." So habe er die Pausen der Singstimme mit spontanem Spiel gefüllt, und die frommen Leute in den Sitzbänken unten hatten jedes Jahr wieder geschmunzelt.
Er war angeblich ein verschmitzter, lustiger Geselle, der Großvater, der noch im hohen Alter mit seinen Originalzähnen Glas beißen hatte können. Oft hat die Mutter solche Bilder aus ihrer Kindheit in Eisersdorf erstehen lassen, oft hatte ich mir dann die Szenen in den schillerndsten Farben und Gerüchen und Tönen ausgemalt. Wie oft hat sie also auch das erzählt.
Sie kennen diese Geschichte schon von mir? Ach, man erzählt doch nie etwas "Neues." Man gibt in Geschichten nur bewegtes Ewiges weiter, macht es sichtbar und hörbar und fühlbar, wie dieses wärmende Licht, das in der Erzählung lebt. Vom Großvater, der beim Transeamus zu Weihnachten jedes Jahr mit seinem Schoafschella-Einschub, während das Schnabel-Stück quasi Luft holt, die Gemeinde unterhielt. Geschichten, die immer nur so wahr sind wie das Holz, das in ihren Flammen glost. Und was könnte in der Grafschaft Glatz wahrer sein als dieser von Stille umflorte, aber vor Vorfreude auf den Ausbruch fast schon platzende Ruf
"Geht hin, geht da hin,
der Geliebte ist dort,
mit reifem Honig löckt er zu jenem Ort
den jeder hat,
weil keinem ein andrer Ort auf dieser Erden,
und wie er sollt ihr doch werden."
A. d. C.
Und welches Glück sollte es mehr geben?
Transeamus
usque Bethlehem,
et videamus
hoc verbum quod factum est.
Weil es heute aber eher
ums Weihnachtshochamt geht, hier die Reimann-"Pastoral-Messe
in C", die ich selber noch oft (in der Baßlinie)
gesungen habe. Auch Ignaz (Ignatius - Jesuiten ...) Auch Ignaz (sic!) Reimann ist ein
Glatzer. Und Pastoral bedeutet ja - Weihnachten. Gott, der sich den
Menschen herniederbeugt. Und dazu muß er der menschlichen
Erkenntnisform angemessen sein. Als Menschliches unter Menschlichem.
*241116*
(re. 241221)