Wenn wir nur die Quintessenz der bahnbrechenden (und vielfach preisbehängten) Arbeiten von Henry Poincaré und zwanzig Jahre später Kurt Gödel hernehmen dann ist es die mathematische Ebene einer u. a. von Kant und Diltheiy vorbereiteten Denkweise, in der es voraussetzungsloses Denken über die Welt nicht gibt. Weil immer ein Mensch antwortet, antwortet er immer aus einer Position - in einer Identität - heraus, die eine Stellung zur Welt mit sich bringt.
Lassen wir hier aber die Diskussion darüber, ob es deshalb grundsätzlich KEINE Wahrheitserkenntnis (über die Welt) gibt oder nicht, was eine Diskussion über die Natur der Wahrheit und des Geistes (-igen) ist. Eine Diskussion, die direkt dami tzusammenhängt. Lassen wir auch die Konsequenzen aus einer weltsicht des Evolutionismus, in der alles, was Welt und Mensch und Leben überhaupt ist, auf ein paar Funktionen von Molekülen reduziert wird. (Übrigens: Auch das Geschehen in Atomen, das ist wenigstens schon klar, wird vom übergreifenden Feld - dem Molekül - charakterlich und damit erst meßbar bestimmt. Denn Atome sind wie alles ein "Feld".)
Wenden wir uns stattdessen einem Problem zu, das religiöser Natur ist. Denn sowohl aus Gödel (um nur diese beiden Spitzen eines riesigen Stachelknödels - ha, das reimt sich: Gödel, der Knödel ... muß ich ins "Notizbuch der Einfälle zur Poesie", ich bin bei Band 569, notieren - zu nennen) wie auch aus Poincaré muß man mit mathematischer Beweiskraft (sic! das war ja das Sensationalle an der Arbeit der beiden: Sie haben mathematisch-logisch bewiesen, was sie dann sagten) sagen, daß alles menschliche Denken, alle Logik, einer nicht der Logik entspringenden Voraussetzung, aus Annahmen, also aus persönlichen Vorentscheidungen und Haltungen FOLGT.
Schluß also mit dem Gerede von der voraussetznngslosen Wissenschaft, die da einige Jahrzehnte (ehe sie das Schicksal alles HIstorischen erlitte, es entkoppelte sich zu einer freischwebenden apriori-These im Menschheitsgedächtnis, das fortan "auch da" war und ergriffen werden konnte) meinte, es gäbe diese freischwebende Welt "an sich", und der Wissenschaft hätte es um diese Laborhaftigkeit zu gehen. Was durch die Entdeckungen der Quantenphysik so zertrümmert wurde, daß es die Köpfe sehr vieler regelrecht verwirrte, die da glatt feststellte, daß kein Atom überhaupt (für uns meßbare) Eigenschaften hat, es sei denn, man stellt es in einen Beziehungszusammenhang, gibt ihm also quasi seine Eigenschaften als Beziehungsqualitäten vor.
Worum es uns jetzt aber gehen soll, ist etwas ganz anderes. Es ist der Versuch, die Erhellungskraft eines freigesetzten Sprachpferdes zu testen, das von Worten geritten wird, die zeigen, wie sehr jede dieser Denkschulen und Denkweisen zuvor von kulturellen Haltungen geprägt sind, und wie sehr wiederum diese kulturellen Haltungen von einem jeweils tief persönlichen Umgang mit .... der Schuld bestimmt sind.
Warum der Schuld? Warum nicht des Genusses, der Lust, des wohligen Arschgefühls oder des Nussigen im Maroniaromi, pardon, -aroma? Weil sich Korrelatioen zeigen, die dieser These ziemlich wenig widersprechen, was heißt, die so tun, als wäre diese These richtig. Als ginge es der Menschheit (die natürich eine aktive, eine handelnde ist) seit je nur um eines: Sich zu entschulden. Sich von Schuld frei zu machen.
Beobachten wir doch den Alltag. Das Reden der Menschen. Ihr Tun. Könnte man nicht auf den Verdacht kommen, daß fast alles Tun und Reden ein pausenloser Versuch ist, die eigene Gutheit (als Versöhntheit, und damit der Legitimation der Auktorität, also der Freiheit und Bestimmungs- weil Schöpferkraft der Welt, also des "seins wie Gott", mal wörtlich, mal ähnlicherweise) darzustellen? Sich als gut dazustellen?
Ist nicht alles auch so zu sehen, als wäre es ein Beweisen-wollen, daß es sich so verhalte? Und ist nicht der am Freiesten, der "erlöst" davon ist, der sich also gerechtfertigt zu wissen scheint, und deshalb gelassen und überlegt durch sein Leben schreitet? Ist nicht deshalb jede, aber wirlich JEDE Religion nichts anderes als der Versuch, diese Last loszuwerden? Unterscheiden sich die Religionen nicht genau darin? Und sind nicht Religioen genau daran zu erkennen: Wieweit sie Entschuldung zu ihrem Inhalt und Ziel haben, sodaß alle Riten und Zeremonien die Reinigung bis auf Gottesebene anstreben?
Fällt uns da nicht außerdem auf, wie viel an unserer gegenwärtigen Welt plötzlich zur "Religion" wird, und wie viel, das freilich so tut als wäre es eine, das gar nicht oder nicht mehr ist oder sein will? (Wen oder was ich damit meine soll sich jeder selbst denken.)
Jedenfalls - Jedenfalls könnte man dann die Religionen in zwei Gruppen teilen, so sehr sich (wie wir mit unserer einigermaßen vorhandenen Kenntnis über diese Religionen feststellen) diese Gruppen auch imjmer wieder überschneiden mögen.
Aber da gibt es zuerst einmal die einen Religionen, die einen Kult und Ritus haben, DER sie entschuldet. Sie kommen und bitten, daß die Götter ihr Opfer annehmen, das sie dann entsühnen soll. Weil man im Geben "leidet", wird dieser Schmerz zum Lösepreis, zum Wiedereintritts-Geld, das wir Gott bezahlen, auf daß wir wieder seiner Sphäre zugehören, und von ihm günstig behandelt werden. Jetzt oder später ist mal so, mal so.
Und dann gibt es die anderen. Die sich ziemlich ausschließlich an den Religiösen selbst wenden, die also den Gläubigen (wie immer man das nun nennen mag) im Mittelpunkt haben, und DIESEN von Schuld frei machen. Wie es der Buddhismus tut, der genau so wie fast alle übrigen Religionen der Welt (AUSZER der katholischen!) gar nicht wirklich definierbar ist, weil es so viele Buddhismen gibt, wie es "BuddhistEN" oder Buddhistengruppen gibt) und doch in einer, in dieser Zielsetzung zu umfassen ist: Er will den Menschen auslöschen. Er will durch Übung und Training und Methode alles auslöschen, was sich an Selbst in der Welt gebaut hat. Dem letztlich dann sogar das Wort von Gott ausgetrieben wird, der ebenso als illustre Illusion enttarnt und losgelassen wird.
Aber es gibt eine Religion, die hat das nicht, oder besser: nicht mehr. Sie hatte es, dieses in der Gabe stellvertretenden Sündenbock-Opfer der Entsühnung, der Wiederversöhnung mit Gott. Aber jetzt fehlen ihr durch die historischen Entwicklungen (und Gott ist ihnen der Herr der Geschichte, also muß das etwas mir ihm zu tun haben, etwa eine riesige, irre lange Fastenzeit vielleicht) die Vorausetzungen dafür.
Seit der Tempel in Jerusalem, nicht nur (wie in anderen Religionen) eine Opferstätte unter vielen, nein, sondern DIE Opferstätte schlechthin, die einzige, wie es die Tradition und Gottes Wort lehrt, seit dieser Tempel also zerstört ist, haben die Juden keine Entsühnungsriten mehr. Sie warten nach wie vor auf die Inkarnation Gottes, der es dann übernehmen wird, so die Prophezeiungen, daß sie es wieder gut haben, weil mit Gott versöhnt sind. Sodaß dann Gott, wieder mitten unter ihnen, alle anderen das Fürchten lehren wird, weil Gott gewisermaßen selber ein Jude ist. Und dann haben sie wieder den Tempel, bzw. dann sind sie wieder versöhnt, ist ihre Schuld nachgelassen und vergeben (was ja bekanntlich zwei verschiedene Ding sind, dem sich sogar noch das Verziehen zugesellt; es ist also nicht wenig kompliziert, das mit der menschlichen Schuld.)
Seit dem Jahre 70 aber stöhnt jeder Jude unter einer Last, die nicht mehr wie früher einmal in der Woche, beim Sabbatopfer, von ihm genommen wird. Seit der Zerstörung des Tempels durch die Römer, die einen der ständig wiederkehrenden Aufstände in Palästina bekämpften, bis es ihnen reichte, und sie rund sechzig Jahre später, nach dem gigantischen Aufstand, symbolisiert in ihrem Führer, den manche als Messias sahen, Simon Bar Kochba, den Ofen ausbliesen. Und die Religion verboten, und deren Vertreter in alle Welt verwiesen, weil sie in Jerusalem nicht mehr bleiben durften. Ohne Messias gibt es auch keine Anführer, kein religiöses Oberhaupt, dieses wurde durch ein Gremium vertreten, den Sanhedrin. Aber jeder Rabbi interpretiert seither die Torah (das "alte Testament") wie er es sieht. Die Summe dieser Interpretationen, wenn man so will, ist dann im Talmud niedergeschrieben, dem neuen Hauptbuch der Juden. Das von weisen Juden" ständig ergänzt, dem Normaljuden nun sagt, wie sie sich in diesen Zeiten ohne Opfer verhalten soll.
Denn allen ist natürlich eines ein Problem: Wie ird man die Schuld los!? Diese Frage beherrscht das Judentum von allem Anfang an. Und so ist (vor allem, aber nicht nur) im Talmud ein riesiger Rhetorikapparat entstanden, an dem noch dazu nicht nur jeder Rabbi fleißig weiter strickt, sondern der Rabbi ist für die jeweilige Ortsgemeinde die Instanz geworden, die den Meschen überhaupt sagt, was ein Jude nun zu tun oder zu lassen habe, und wieweit etwas Schuld vor Gott ist.
So wurde das Judentum zu einer Religion der Rhetorik. Deren Ziel und Inhalt und Technik es ist, von Schuld zu befreien und zu lösen. Und wer nun die Geistesgeschichte ansieht wird zu seinem Erstaunen entdecken, daß die Geistesgeschichte des Abendlandes voll mit solchen Schuldauflösungen ist. Und zwar auch, ja GERADE dort, wo die religiöse Überzeugung defacto verschwunden ist, aber noch eine gewisse Art des Judentums bleibt.
Morgen Teil 2)