"Gibt es so etwas wie einen rationalen Diskurs in der Philosophie? Ja, es gibt ihn; aber es gibt ihn nur, wenn wir Rationalität primär als Eigenschaft von Subjekten verstehen und nicht als eine von Subjekten abgelöste Struktur.
Es gilt hier das Gleiche wie für Gerechtigkeit. Das Problem der Gerechtigkeit ist nicht ablösbar ohne Rekurs auf Gerechtigkeit als Tugend von Individuen. Gerechtigkeit ist die Bereitschaft eines Individuums, einen für alle zumutbaren Verteilungsschlüssel anzuwenden. Wo nun alle tatsächlich zustimmen, existiert das Problem des Verteilungsschlüssels gar nicht. Das politische Problem entsteht ja dort, wo NICHT alle einverstanden sind. Da müssen die, die mächtig sind und über den Verteilungsschlüssel zu entscheiden haben, so entscheiden, daß sie dabei die Zustimmung aller antizipieren.
Ob der Verteilungsschlüssel für alle zumutbar ist oder nicht, das hängt nicht davon ab, ob die Betroffenen tatsächlich zustimmen - darauf kann man nämlich nicht warten -, sondern ob der, der die Entscheidungsmacht hat, sich von dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit leiten läßt.
Gerechte Entscheidungen sind dann in erster Linie solche, die von gerechten Individuen getroffen werden, d. h. von solchen, die die Tugend der Gerechtigkeit besitzen."
Robert Spaemann, in "Der Streit der Philosophen"
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