Fortsetzung von Teil 3 - Pläne zu einer NEUEN WIRTSCHAFT, und das Fazit
Und Rathenau's Pläne zur Umgestaltung der Volkswirtschaft? Er feilt sie aus, zu Berechnungen, die nachweisen, daß bei "wissenschaftlicher Steuerung" der Produktionsvorgänge Arbeitszeit, und damit Volksvermögen, und ein Viertel Energie gespart werden könnte; er berechnet, wieviel jede Familie Deutschlands an Einkommen beziehen könnte, wenn man seine Pläne zur Abschaffung von Privateigentum umsetzte, und kommt auf ein nur recht bescheidenes Einkommen, woraufhin er noch utopischere Pläne schmiedet, wie die Produktivität ins Uferlose gesteigert werden könnte, in jeder Werkstatt, in jedem Betrieb; eine zentrale Stelle soll die landesweite Arbeitsteilung im Sinne einer Effizienzsteigerung steuern, im Dienste einer Deckung eines Bedarfs, der nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten ermittelt werden soll und jeden seiner Existenzsorgen entheben, frei zum schöpferischen Prozeß machen soll, organisiert in alles planende und beherrschende Berufs- und Branchenfachverbände mit staatlich kontrollierter und koordinierter Selbstverwaltung.
Auch wenn Rathenau freilich zugeben muß, daß eine entscheidende Funktion von Privateigentum, von Privatkapital, durch den Staat NICHT ersetzt werden kann. Man merkt hier seine reale Erfahrung als Unternehmer. Denn, so schreibt er, dem Staat fehlt der "leidenschaftliche Anreiz, der die Sorgen der Verantwortung überwindet." (Sprich: staatliche Verwalter werden eher mit Gleichgültigkeit auf Probleme reagieren.) Zudem sieht er freilich, daß das Personale des Unternehmers durch keine noch so fachlich korrekten Analysen, die sich noch dazu meist widersprechen, ersetzt werden kann, denn ein Unternehmer braucht vor allem - Instinkt.
Ja, selbst Risikokapital (und Risiko bedeutet jede Investition in der Wirtschaft) ist eine Frage des Überschusses. Arbeitnehmer, die gerade ein gutes Auskommen haben, werden niemals ihr Erspartes riskieren. Dazu brauchte es bislang immer überschüssiges Kapital.
Aber Rathenau glaubt unerschütterlich an das Gute im Menschen: einem unerschöpflich reichen Staat - mit nur einem die Berufs- und Gewerbeverbände überwachenden und koordinierenden Organ, der Staatsbank - gegenüber (der über sämtliche Privatvermögen verfügt), muß ein verantwortlicher Angestellter, der aus persönlichem Anstand und Ehrgefühl dieselbe Begeisterung wie ein Unternehmer aufbringen wird, Probleme zu lösen, lediglich die Begründetheit eines Finanzbedarf belegen - solche Sachzentriertheit von Entscheidungen muß die Motivation von alleine heben.
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Nichts bleibt eben KEINE Angelegenheit des Staates. Auf eine Weise läßt sich ja tatsächlich alles als Sache der Gemeinschaft ansehen. Denn jedes Handeln des Einzelnen tangiert immer, über seine nähere oder weitere Umgebung, den Staat, in dem er lebt, und Rathenau reklamiert jedes Menschen Arbeitskraft als Volkseigentum. In dessen Interesse, im Interesse der Stärke des Landes, die vor allem eine Stärke nach außen ist, sieht Rathenau die Notwendigkeit zu solcher Sozialisierung der Wirtschaft. Den Boden dazu hat in seinen Augen der Umsturz des Weltkrieges bereitet.
In manchen Phasen, man muß es so formulieren, bei allem was sich in Rathenau's Schriften an interessanten Gedanken findet, erscheinen einem seine Pläne wie neurotische Übersteigerungen krankhaften Technizismus, die eine Wirklichkeitsfremdheit verraten, die für das Deutschland dieser Zeit wohl typisch ist. Eine Abgehobenheit, aus der das Land dann zwar furchtbar erwacht, die aber eine Fülle von Gesellschaftsentwürfen evoziert.
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Wenn man Rathenau's Wirken und Denken fortführt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Sozialstaat heutigen Zuschnitts, in Österreich noch mehr als in Deutschland - natürlich ohne solche expliziten Pläne verfolgt zu haben - exakt die Verwirklichung solcher Sozialisierungsgedanken ist. Gedanken, Pläne, Entwürfe, die aus dem Daseinsgefühl erwachsen sind, daß der Welt ihre Ordnung abhandengekommen ist. Oder daß die alten Ordnungen abgeschafft werden müssen. Ja, in der Zeit des Nationalsozialismus steht man (in Deutschland) staunend einer "Ordnung" gegenüber, die nach den Entwürfen wie jenen von Rathenau, diesen aber manchmal sogar exakt, geformt scheint.
Sieht man von den kommunistischen Staaten ab, die pure Verwirklichungen solcher Ansätze sind, und für viele damals (wie ... heute) als "die Zukunft" der Völker und Staaten, als einzige Gesellschaftsform angesehen wurden, die mit den komplexen Problemen der Zeit fertig wird.
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Zusammen mit den Entstehungsursachen und -gelegenheiten gesehen, beschleicht einen aber vor allem das seltsame Gefühl, daß wir, in unseren Sozialstaaten, uns in einem heimlichen, nie erklärten, chthonischen, aber bedrückend realen Krieg, einer noch immer nicht beendeten Revolution befinden: wo sich der Staat seit 90 Jahren in einer nur graduell unterschiedlichen, immer aber existenzbedrohlichen Situation fühlt, das allen diesen Staaten, als prägende Grundgestimmtheit, zugrunde zu liegen scheint. Woraus sie die Ermächtigung zieht, das Leben der Menschen zutiefst zu bestimmen.
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Rathenau's Schriften aber zeichnen die heutigen Staatsmodelle in Europa regelrecht vor. Sie erschienen in Rekordauflagen, und Rathenau war um 1920 der am meisten gelesene und diskutierte Sachautor Deutschlands. Er hat nichts Neues erfunden, das stimmt, und dafür wurde von einer Zeitung damals sogar ein Preis ausgesetzt, den selbst zu spenden Rathenau sich nicht entblödete. Aber mit ihm kam plötzlich die Verwirklichung, er sprach diese alten Gedanken in eine Zeit, die für diese Ideen nun bereit war, und er kombinierte manche Gedanken neu, sodaß sie plötzlich verwirklichbar erschienen.
*031010*