"Man begeht einen schweren Fehler, die Wahrheit auf Richtigkeiten von chemisch-physikalischen Operationen in Sätzen oder Dingen festzulegen. Man begeht gleichermaßen einen Fehler, sie vom Verstand zu trennen, unserem Instrument der Verantwortung. Man begeht einen schweren Fehler, läßt man sich in Fragen der Wahrheit, die Fragen um die Wirklichkeit der Welt sind, die uns umgibt, auf logische Operationen festnageln, man begeht einen nicht minderen Fehler, will man auf Logik verzichten, dieser Melodie des Herzens.
Wie sehr es aber um Wahrheit selbst geht, in allem und jedem, erweist sich nicht zuletzt in Gesprächen oder Diskussionen. Wo man bei auseinanderklaffenden Meinungen sehr rasch zum Punkt persönlichen Engagements gelangt. Es muß also um etwas gehen, bei der Wahrheit.
Und das tut es. Es geht buchstäblich ums Leben.
Wahrheit ist nicht Informiertheit und nicht argumentative Hochrüstung. Sie ist persönliche Antwort, die begegnet, die entgegen genommen wird. Was aber schützt den Einzelnen davor, nicht verrückt zu sein? Was beugt vor, nicht einfach zum Sonderling und Verrückten zu werden, inmitten aller Kritik, die Ausdruck eines großen Unbehagens ist, das keiner rationalen Operation entstammt, sondern einem Erleben, einem Erfahren (der Gegenwart)?
Hier begegnen sich zwei tragische Entwicklungen. Das eine ist der Ruf zur Autonomie, in der sich jeder selbst Wahrheit suchen solle, wie es das Zauberwort "Bildung" vielleicht gar verheißt. Das andere, damit zusammenhängende, ist die Ablehnung gewachsener Autoritäten, die Ablehnung von Hierarchien, um dann aber doch einer Autorität anheimzufallen. Denn ohne Autorität geht es nicht. Jeder hat sogar "seine" Wahrheit empfangen, auch wenn er ihr nur mehr oder weniger treu ist.
Fehlt die Verankerung in der Wahrheit, wird jeder Disput wortwörtlich lebensgefährlich. Nichts hält einen dann noch, zerstiebt die eigene Auffassung, würde vom anderen durchlöchert und durchsiebt. Dann werden aufgelöste Meinungen zu Bedrohungen, dann wird der andere, der anders denkt, zur tödlichen Gefahr. Die Wahrheit selbst muß uns halten, und wir können dann auf diese reale Erfahrung antworten, und uns treu in ihr halten. Dann ist auch zu ertragen, wenn alles Rundum anders denkt, anders redet, anders handelt. Und - nur dann sind wir geeicht vor der Gefahr, verrückt zu werden, auch wenn nur wir es sind, die so und so denken, sprechen, handeln. Die Wahrheit ist unsere Gewähr, unser Fels, unsere Garantie. Mehr haben wir nicht in unserer Ge- und Zerbrechlichkeit. Aber auch nicht weniger.
Wahrheit ist in jeder Hinsicht persönlich, sie ist ein personales Geschehen, so wie die Welt selbst ein Geschehen, ein Prozeß ist, den wir in unserem Wahrnehmen und Reflektieren wie mit Momentaufnahmen photographieren, über das wir aber immer hinausdenken und -gehen müssen, um diese Bilder wieder zu einem Prozeß, ahnungsweise, zusammenzuschließen, um sie zu deuten, um die Ordnung, das Wesen dahinter zu sehen. Um zu sehen, wie die Physik, daß es dieses Dahinter ist, dieses Vitale, das die Welt konstituiert: Wahrheit über die Welt als lebendiges Geschehen. Nicht als starre, eingegrenzte. beschränkte Kausalität, die die Wissenschaft zwar pflegen muß, um solcherart beschränktes, wie für sich stehendes Erkennen zum instrumentalen Wissen zu heben, das aber nicht die Wahrheit und Wirklichkeit über die Welt in ihrer Fülle ist.
Und sie muß gegeben werden, die Wahrheit, man kann sie nicht selbst machen. Denn sie ist für den, der hören will, eine Teilhabe an der Wahrheit selbst, die alle Dinge, ja die Welt umgibt wie das Wasser den Fisch. In ihr ist alles, und jede Begegnung mit einem etwas, ja mit uns (als ein Etwas), ist in sie eingebettet, aus ihr sind und leben alle Dinge und Lebewesen: Geist.
Man unterschätzt, ganz gewiß, die Ernsthaftigkeit der Mahnungen Jesu Christi, der von dem schmalen Pfad zum Himmelreich spricht. Man unterschätzt gleichermaßen, wenn er die Sorge äußert, ob er bei seiner Wiederkunft am Jüngsten Tag überhaupt noch Glauben finden wird.
In Jesus Christus ist die Wahrheit selbst in die Welt gekommen. Das beantwortet alle Fragen, wenn auch die Details noch zu klären sind. Täglich, stündlich, sekündlich muß das, was einem begegnet, in diese Wahrheit getaucht werden, vor ihr geprüft, in ihr geläutert werden. Das ist schwere Arbeit, das ist sittliche Arbeit. Aber sie ist nur zu verrichten, wenn der Ort der Wahrheit unverrückbar steht. Und dieser Ort kann nicht selbst gegeben werden. Denn wer sich auf einem Weg zu einem Ziel begreift, kann dieses Ziel nicht selbst definieren. Er muß etwas außerhalb ihm Liegendes suchen, und es dann fest in den Blick nehmen.
Darin begründen gewiß auch alle Sehnsüchte nach Messiassen, nach Erlöserfiguren, nach Propheten und Wundertätern und Gurus und politischen Lichtfiguren, die die Menschheit kennt. Auch und gerade heute, in einer Welt, die außer Rand und Band scheint.
Man kann der Frage nach der Wahrheit und nach Gott weit folgen mit seinem Verstand. Aber nicht jedem ist es gegeben, diese Verstandestätigkeit vollziehen zu können. Dann nämlich, wenn er die Personalität der Wahrheit nicht begreift. Zu diesem Begreifen braucht es aber eben Sittlichkeit, keine logische Operation und keine informelle Summe.
Alles steht und fällt also damit, für welchen Anker der Wahrheit sich der Mensch entscheidet. Das gilt für ausgewiesene Rationalisten nicht weniger, eher sogar mehr, wie für dezidiert Religiöse. Aus dieser Verankerung erst, nicht aus der logischen Operation, ergibt sich Wohl und Wehe der Welt, Richtigkeit oder Falsches im Tun und Denken. Und hier stehen auch nicht diese oder jene Orte der Verankerung gleichberechtigt nebeneinander. Das kann gar nicht sein.
Christsein heißt, sich in Jesus Christus zu verankern. In einer Person. In Gott, der Mensch geworden ist, und in seiner Kirche, sakramental, weiter - im Symbol - auf der Erde ist. Mehr als jedes andere Symbol über Wirklichkeiten der Welt. Er ist das Schlüsselsymbol, denn in ihm hat sich das Jenseitige, das Reich des Geistes der Wahrheit selbst, in der Erde eingehaust. Real, historisch, fleischlich.
In jenem Stall in Bethlehem. In Windeln gewickelt, in einer Krippe liegend, wie uns erzählt wurde, wie wir es erst nur unseren Vätern und Priestern und Schriften glauben können, in einer Haltung die wir unseren Müttern und Frauen entnehmen, um es dann zu erfahren. Aber eben erst dann erfahren.
Nur sie ist der Verehrung wert, nur sie ist der Anbetung wert. Sie ist die Säule, auf der die Welt ruht, hier, im hilflosen Kind, das heranwachsen wird. Klein und angreifbar, wie unser Herz zu sein hat, will es sich dieser Wahrheit öffnen, aus der heraus alles lebt und west. Es macht damit alles irdische Streiten und Diskutieren, alles Überlegen und Argumentieren, jeden Figurenstreit der Welt zunichte, überragt alles unendlich. In ihm ist alles geschaffen. In ihm lebt alles. In ihm west alles. So unendlich, so wahrlich unendlich groß, daß wir erstaunt feststellen, daß jede unserer Vorstellungen dafür nicht reicht, ja daß wir diese Größe niemals fassen können, weil sie tatsächlich so groß ist. Plötzlich sind das alles mehr als Worte, mehr als logische Schlüsse. Es wird zum ungläubigen Staunen über diese Differenz, die die eigene Erbärmlichkeit und Kleinheit noch erbärmlicher und kleiner erscheinen läßt, als wir je wahrhaben wollten. Gott ist tatsächlich der ganz andere. Viel, ja sehr viel Mut braucht es zu dieser Einsicht, weil wir uns mit ihr aus der Hand geben, aufhören, uns selbst retten zu wollen. Aber dort liegt es. Und dort liegt sie auch, die Ruhe, der Friede, nach denen sich jeder so sehnt.
Sie ist keine der Wahrheiten, mit denen wir sonst hantieren. Sie ist - die Wahrheit selbst, die in der Krippe vor uns liegt, und vor der wir mit unseren Gaben knien. Venite adoremus!"
Aus Urs Leutmer, "Predigten zum fortdauernden Weihnachtstag"
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