2. Teil) Warum unsere Standpunkte erstarrt sind
Man muß in der Perspektive den Standpunkt des Betrachters definieren, und alle weitere ergibt sich mit mathematischer Präzision, die Welt wird zur bloßen Mathematik. Auch das ist exakt die geistige Entwicklung jener Zeit, besonders in den Naturwissenschaften und in der Mathematik: die Welt wird von einem angenommenen Standpunkt - einer Zentralperspektive - betrachtet, und auf diese umgebrochen. Sie wird damit starr!
Denn auch das natürliche Sehen der Welt ist ein permanenter Perspektivenwechsel, der in der Aneinanderreihung von Eindrücken (verschiedenster Art) ein Gesamt erfaßt. In der Mathemaik war es der euklidische Horizont: eine völlig durchdefinierte Annahme über die Welt, die sie beschreiben sollte - aber es ja nie "ganz" tat, sondern eben nur "hinsichltich ihrer gewählten Bedingungen". Nur dahingehend läßt sich also "wissenschaftlich wissen": in einem definierten Rahmen, von einem Standpunkt aus.
Tote Standpunkte aber verringern sogar die Dimension: sie machen zweidimensional, es fehlt die Raumtiefe (die verschiedene Standpunkte benötigt, weshalb die Illusionsmalerein bald auf mehrere Perspektivestandpunkte übergegangen ist!) genauso wie die vierte Dimension, die Zeit! Das Wesen der Tiefendimension liegt häufig sogar in krassem Gegensatz zur Perspektive. Man sieht es, wenn man z. B. vom Zug aus eine Baumgruppe betrachtet, die sich wie um ihre eigene Achse dreht! Im Volumen erhalten die Dinge auch ihre Realität.
Damit beginnt die Perspektive - die bis zum heutigen Tag gewöhnungsbedürftig ist, die bis zum heutigen Tag vom Maler oft mühsam erlernt werden muß, die immer wieder durch Fehler auseinanderfällt, etc., die also NICHT dem natürlichen Sehen entspricht - unseren Weltzugang zu manipulieren. In jedem perspektivischen Bild nimmt man uns die Weltdeutung aus der Hand. Während wir nicht einmal mehr sehen, daß die Welt aus der Zentralperspektive tot wird, was sich am klarsten im primitiven Naturalismus zeigt, der deshalb nicht durch besondere Naturnähe besticht, sondern der ein starres, manipulatives Weltinterpretationssystem verrät.*
Seit der Renaissance konzentriert sich menschliches Tun zunehmend auf Endzustände im Betrachter, im Erkennenden, ALS Erlebtes: seither gibt es eine via Effekt steuerbare "Volkswirtschaft", eine utilitaristische (macchiavellische) "Politik", und: es beginnt sich der seltsame "Zwischenstand" des "Bürgers" zu entwickeln - mit seiner pathologischen Form, die wie ein Kaleidoskop all dieser Erscheinungen wirkt, dem "Kleinbürger", der nur noch aus Konvention besteht. Die Perspektive ist pure Konvention: eine symbolische Form für eine mechanistisch verstandene Welt.
Die Zeichung, das Bild aber verrät es, man muß nur genau hinsehen: in der Perspektive, die sich über Jahrhunderte in Gebrauch gebracht hat, ist unsere Weltsicht erstarrt. Wenn wir also heute eine immer dramatischere Unflexibilität von Wissensinhalten feststellen, dann haben wir es mit Auswirkungen zu tun, zu denen die Weichen vor 500 Jahren definitiv gestellt wurden. Wo wir uns in einer Weltsicht befinden, deren Manipuliertheit wir kaum noch durchdringen können, die in ihrer Suggestivität aber wirklich subjektiven, freien Zugang zur Welt be-, wenn nicht verhindern. Und damit die Angst steigern, die tief in uns die Welt und Wirklichkeit zum todbringenden Feind macht. Wahrscheinlich ist genau darin die Begründung für die "globalen Bedrohungen" zu sehen, die unser Leben bestimmen: die aus einer tiefen Weltangst geboren wurden und werden, weil wir uns in unserer Wahrnehmung von der Welt zunehmend abgeschlossen haben. Denn die Perspektive ist bereits eine Sicht ohne eigene Sinnlichkeit - Sicht auf der Grundlage der Sicht eines anderen. Der komplexe Vorgang der Wahrnehmung wird seit der Renaissance auf eine reine Aufnahme von Daten reduziert. Kennen wir das nicht von irgendwo? Beschreibt das nicht das Geschehen im Internet?
Und DAMIT beginnt der wirkliche Zerfall unserer Welt, beginnt die Welt sich aufzulösen, beginnt unser Umgang mit ihr rücksichtslos zu werden: weil die Formen der Welt und damit die Dinge aufhören, zu existieren, weil wir sie gar nicht mehr wahrnehmen.
*Ich habe zweimal in meinem Leben mit der Perspektive umfangreiche Erfahrung gesammelt: Als Bauunternehmer habe ich den Verkauf dahingehend unterstützt, als ich "zwischendurch" Planungen perspektivisch-attraktiv - per Handzeichnung - "aufbereitet" habe. Aus irgendeinem Grund begann ich automatisch, perspektivisch zu zeichnen, die zweidimensionale Zeichnung erschien mir rasch zu kindlich, zu wenig "professionell". Bald aber entdeckte ich, daß die Perspektive, die ich aus Büchern mir aneignete und dann rasch und exakt umsetzen lernte, immer wie tot wirkte, und ich fand auch kein Gegenmittel: je exakter die Zeichnung war, desto unlebendiger wirkte sie, obwohl ich immer exakte Linien durch freien Strich aufbrach.
Als ich in der Innenarchitektur tätig war, verfiel ich ohne viel nachzudenken, aus den anderen Anforderungen in der Kundenberatung, sofort in die reine Handzeichnung, die ich dann - vor dem Kunden, am Tisch - durch wenige konstruierte Linien lediglich etwas "orientierter", systematischer machte. Aber nicht einmal das geschah immer, manche Verkaufsplanung entstand in völlig freiem Handentwurf. Und tatsächlich: die erstaunlichen Verkaufserfolge hingen offensichtlich damit zusammen, als ich mit diesen Zeichnungen begann, ein Bild einer Wirklichkeit zu zeigen - und die Kunden kauften dann diese Wirklichkeit! Die sich jeder Freiheit bediente - also die Dinge der Raumplanung nach Eindruck auffaßte, den sie hatten oder im Raum haben würden. Manchen Kunden war sogar die Zeichnung (es mußte sich herumgesprochen haben, das entnahm ich manchen Beobachtungen) fast wichtiger als die eigentliche Einrichtung. (Weshalb ich lange darüber nachdachte, ob ich "manipulierte", wenn ich diese Eindrücke wiedergab, und nicht die harte, tote Technik der Perspektive nach Konstruktion.) Ich habe erlebt, wie sie rund um mich standen, und mir faszineirt zsuahen, wie ich miin wenigen Viertelstunden vor ihren Augen eine Welt erstehen ließ. Kaum einer, der nciht dezitiert bei Kaufabschluß die Zeichnung haben wollte, manchen war sie regelrecht barwerter "Bonus". Ich behaupte nicht, große Kunstwerke geschaffen zu haben - ich reflektiere mit dieser Erzählung nur die direkte Erfahrung mit dem Zeichnen der Wirklichkeit, wie sie im Verkauf recht plakativ wird. Heute, übrigens, agiert das Unternehmen, von dem ich zuletzt erzählte, mit "perfekter" Computergraphik. Ich behaupte, daß - abgesehen davon, daß solche Technik heute jedermann zugängig ist, also kein Verkaufsargument mehr darstellt - der Verkauf durch solche Zeichnung nicht mehr wirklich gestützt wird: weil diese Zeichnungen, so "perfekt" sie sein mögen, nicht merh Wirklichkeit darstellen. Der Kunde aber will und kauf Wirklichkeit, nur der kann er zustimmen. Wer immer im Verkauf war, und ihn nicht unreflektiert abspulte, wird diese Erfahrung bestätigen: Verkauf ist "Zustimmung zu Sein, zu einer Wirklichkeit", an der der Käufer durch Vertrag teilhaben wird. Auch die verbale Argumentatorik darf sich nur darauf beziehen - jedes weitere Wort ist zuviel.