Teil 2) Der moderne Sozialstaat entstand als Konkurrenz zur Mafia
Überall, wo staatliche Regelung nicht ausreicht, oder wo Bedarf nach 
Illegalem besteht, besteht somit Bedarf nach Mafia. Das hat sich in der 
UdSSR gezeigt, die bekannt mafiös durchsetzt war, und wo die Mafia auch 
den Systemsturz problemlos überlebt hat, als Staat im Staat. Wer zur 
Zeit der Wende 1989ff. in unseren Landen ein Unternehmen besaß weiß mit 
hoher Wahrscheinlichkeit ein Lied davon zu singen: Kaum jemand der nicht
 Besuch von adrett gekleideten Herren mit russischem Akzent bekam, die 
ihm ihre Dienste zur Eintreibung von Schuldden anboten! Aber sie haben 
sich wohl getäuscht, bis auf Einzelfälle war in Österreich nichts zu 
holen.
Aber die Mafia tut sich aus ihrer Natur heraus schwer, sich auszubreiten, und scheitert häufiger, als man meinen könnte. Signifikant dafür ist das Mißlingen des Aufbaus eines Netzes der sizilianischen Mafia in Verona, um wieder aus dem FAZ-Bericht
 zu zitieren - es gab eine starke regionale Mafia, der Markt war für das
 neue Netz zu groß (!), und die alten Mafiamitglieder trauten einander, 
ihre Handelswege waren eingespielt. Die sizilianische Mafia konnte die 
Kontrolle nicht erobern, und mußte sich wieder zurückziehen.
Ähnliches berichten die Studienautoren aus Oxford, zwei Italiener, über die Mafia in Argentinien. Auch dort gelang es ums Jahr 1900 nicht, Fuß zu fassen, obwohl dorthin sogar viele Italiener ausgewandert waren. Aber der Markt war unbeherrschbar, die Konkurrenz zu groß, die Bauwirtschaft (auf die die Mafia abzielte) zu kleinstrukturell organisiert. Arbeiter gab es unkontrolliert und unbegrenzt aus der eigenen Landflucht, und die Gewerkschaften standen unter der Knute des Staates.
Anders z. B. in Ungarn ab 1989. Hier kam es aus der Privatisierungswelle heraus zur wirklichen Ausbildung 
einer Tochterorganisation der russischen Mafia, weil der Bedarf vorhanden war: vieles war noch ungeregelt, gleichzeitig war viel "brauchbares" und vernetztes Personal aus der kommunistischen Ära freigesetzt. Von 1989 bis 1998 gab es in Ungarn nicht weniger 
als 100 Bandenmorde, und 170 Sprengstoffanschläge.
Es braucht 
Soziotope, die ein zweites Rechtssystem brauchen, aber es auch 
akzeptieren. Darum sieht die Mafia auch Schutzgelder folgerichtig als 
"Steuern". Sie schützt, wo man mit keinem staatlichen Schutz rechnen 
kann. Die Mafia bietet noch dazu nicht einfach Schutz, den man 
nachträglich einklagen kann - sie garantiert ihn, durch ihr 
System der Angst, die wiederum nur persönlich funktioniert, durch die 
Personen, die die Mafia sind.
Deshalb hat auch in der Vergangenheit belegbar der Export der Mafia nur funktioniert, wenn er vom Export entsprechendem Rechtsgefühls getragen war - wie Sizilien/USA, wo es erst zu einer Mafia in New York gekommen war, als die Zahl der Italiener dort von 1903 bis 1913 von 150.000 auf 500.000 gestiegen war, 80 % davon aus Sizilien stammend. Blieb sie am Anfang noch auf kleine Verbrechen beschränkt - Erpressung, Raub - blühte sie erst auf, als es (Freud schreibt: "unter dem Einfluß der Weibergesellschaften") zur Prohibition kam.
Ähnlich verhält es sich mit den chinesischen und japanischen Organisationen. So gibt es in Deutschland erst eine Mafia,
 seit sich ausreichend Italiener hier niedergelassen haben. Unter 
Deutschen fand solch ein System keinen ausreichenden Boden, denn sie 
braucht eine gewisse gesetzliche Liberalität, ungeregelte Zonen, in denen sich ein bestimmtes subjektives Rechtsgefühl breitmachen kann. Je 
intensiver eine Region explizit gesetzlich geregelt ist, desto weniger Boden 
findet Mafia.
Und das läßt ihr Wesen, ihren geistig-mentalen Urgrund deutlicher werden, also so vieles andere.
 Es überrascht nämlich unter diesem unseren Blickwinkel überhaupt nicht 
mehr zu hören, daß die Mafia (in Unteritalien) zu einem Zeitpunkt 
begann, als die alten gesellschaftlichen Ordnungen und Wertegefüge - 
durch die Französische Revolution und den Vollender ihres 
Zerstörungswerkes, Napoleon - definitiv auseinanderbrachen. Der moderne Staat, der in der zweiten Hälfte des 19. Jhds. überall entstand, 
befriedigt im Grunde exakt dieselben positivistisch-rationalistischen 
Regelungsbedürfnisse der Bevölkerungen, und orientiert sich wie die 
Mafia an nur graduell verschiedenen diesseitigen 
Gerechtigkeitsvorstellungen. Totaler Sozialstaat und Mafia sind also "Schwestern der modernen Gesellschaften".
Aber ihr Problem, so die Studie, ist eben viel mehr 
unter soziologischen, sekundär erst unter ökonomischen Gesichtspunkten 
zu sehen, weit weniger aber unter ethnologischen Aspekten, als man 
bisher dachte. Auch ihr globales Agieren muß neu bewertet werden. Ein 
personales System kann sich nie so ungehindert ausbreiten wie eine 
moderne Betriebsorganisation - es klebt zu sehr an den Personen. Ja, die Mafia hat nicht einmal ein wirkliches Motiv, die regionalen Grenzen zu überschreiten. Die Gründung von Tochternetzwerken entstand erst unter dem Druck der Migration, und diese gehen auch nicht über diese "regionalen" Gruppen hinaus.
So gibt es 
zwar Mafiagesellschaften über den gesamten Erdball, als paralleles 
Rechtssystem, das sogar in manchen Gebieten das staatliche Rechtssystem 
in der Hand hat, aber wirklich global werden sie nie agieren können. Nicht zumindest im selben Maß wie man es ihnen aus den regionalen Erfahrungen heraus bisher beigemessen hat. Sie brauchen spezifische Bedingungen, Gesellschaften die in starkem Wandel begriffen sind, wo neue Märkte entstehen, und wo das Rechtssystem nicht mehr Schritt hält. Oder wo das Rechtssystem für Korruption Angriffsstellen bietet.
Es ist jedenfalls kein Zufall, daß die Studienautoren zu dem Schluß kommen, daß die Rechtssysteme rasch und weitgehend ausgebaut werden müssen, um der Mafia den Boden zu nehmen - sie agieren am selben Markt, und befriedigen dieselben Bedürfnisse.
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