Der allenthalben als Pensionsexperte bezeichnete Sozialwissenschaftler Bernd Marin meinte unlängst in einem (langen) Presse-Interview, daß ihm die Haltung so vieler Österreicher unverständlich sei, die wie selbstverständlich davon ausgiengen, daß sie das doppelte, das sie in das Pensionssystem eingezahlt hätten, als Pension gezahlt bekämen. Er könne sich nicht vorstellen, wie solche Erwartungshaltungen zustandekämen. Desgleichen sei ihm unverständlich, warum anstatt das reale Pensionsantrittsalter wie notwendig nach oben zu verschieben, es realiter weiter sank! Ihm sei nicht nachvollziehbar, wie zu einem Zeitpunkt, wo es darum gegangen sei, angesichts der Auseinanderentwicklung der Anzahl von Beitragszahlern und Rentenempfängern zugunsten letzterer die Regierungsparteien noch einmal eine Regelung - die "Hacklerregelung" - in einer "volltrunkenen Parlamentsnacht" (Zitat) beschließen konnten, die einen regelrechten Schub an Belastungen ausgelöst hätten, der das Problem neuerlich verschärft habe, anstatt es zu entspannen. Es gebe in Österreich eine seltsam ausgeprägte Pensionsmentalität, in der Arbeit als "dumm" angesehen werde. Er glaube daß das mit dem geringen Anteil an Geistesarbeitern - Wissenschaftlern, Intelektuellen, Künstlern - zu tun habe, denen er es zuschreibt, daß in anderen Ländern Arbeit und Leben keineswegs so getrennt aufgefaßt würden wie hierzulande. Denn diese Berufe zeichnen sich dadurch aus, daß sie bis zum Lebensende gerne und selbstverständlich arbeiteten, weil ihnen Arbeit Lebensaufgabe bedeute. Wie in Griechenland sei das eine Mentalität, die auch dann noch durch Streiks das Land lahmlege, wenn das Wasser schon bis ans Kinn stehe - was mit der Stellung der Gewerkschaften zu tun habe.
Die Leute haben hierzulande etwa das Gefühl, dass wenn sie „ein Leben
lang“, daher durchschnittlich 31,8 Jahre eingezahlt haben und dann
Pensionsversprechen für durchschnittlich 25,3 Jahre bekommen, die 50
Prozent über ihren geleisteten Beiträgen liegen, dann ist das normal und
voll gerechtfertigt. Sie sind, wie die „Empörten/Aganaktisméni“ in
Griechenland, empört über das Infragestellen von Gewohnheitsrechten,
auch wenn diese unhaltbar sind und schnurstracks in den Abgrund führen.
Das ist eine kollektive Dummheit oder ein „Pensionsanalphabetismus“, wie
die Schweden sagen, der schon verblüffend ist, ein Versäumnis an
Bringschuld von uns allen, Fachleuten, Politikern, Medienmenschen. An
Argentinien kann man heute sehen, welche psychologischen und sozialen
Auswirkungen ein Staatsbankrott noch zehn Jahre später hat.
Dazu komme eine überproportional starke Stellung der Seniorenvertreter - allesamt reife, ausgefuchste Politiker - die die momentane Politikergeneration vor sich her treibe. Auch würde das Pensionssystem von der Politik benutzt, um Sozialprobleme abzuwälzen - Invaliditätspensionen, in denen Österreich europaweit überlegen führt (!), seien doch zuerst ein Problem der Krankenversicherungen! Dasselbe gelte für Frühpensionierungen, mit denen man die Arbeitslosenstatistiken beschönigt habe und beschönige, auch hier ist Österreich führend, alles aber gehe in Vernebelung wahrer Zusammenhänge zulasten des Pensionssystems.
Ich habe tatsächlich Schreiben bekommen, wo mir etwa ein
Handarbeitslehrer „namens zahlloser Kollegen“ erklärt, warum er mit 54
abschlagsfrei in Frühpension gehen müsse, weil ihn die „Gfraster“-Kinder
so ärgern und ein „Burn-out inzwischen Regel und nicht Ausnahme im
Lehrkörper“ sei. Die Österreicher billigen übrigens rund 180.000
Menschen zu, wirkliche „Schwerarbeiter“ zu sein, in der Eigenwahrnehmung
halten sich aber 1,2 Millionen für Schwerarbeiter,
öffentlichkeitswirksam allen voran Sicherheitswachebeamte,
Kriminalinspektoren oder Spitalsärzte.
Problematisch ist, dass in Österreich eine – durchaus verständliche –
muffelige Unterschichten-Kultur von Erschöpfung und demoralisierter
Arbeitsflucht einer Minderheit auch für breiteste Mittelschichten, bis
in die privilegiertesten Nischen des geschützten Sektors hinein,
stilbildend wurde.
In anderen Ländern ist eher eine Kultur der Lebenskünstler und der Selbständigen, Freiberufler, Künstler, Gelehrten und Unternehmer prägend – alles Berufe, in denen man meist viele Jahre länger, oft bis ans Lebensende arbeitet. Bürgerlicher Fleiß und proletarischer Schweiß gelten unseren neo-feudalen, aristokratischen Werten kultivierten Müßiggangs als verächtlich. Wir haben die von Beveridge, dem Erfinder des Wohlfahrtsstaats gegeißelte „Idleness“ ohne viel Kultur kultiviert und gehören inzwischen über 48 Jahre im Leben zu jenen, die Karl Renner abhängige „Versorgungsklassen“ nannte. Daher: Wer in Österreich weiterarbeitet, wird von anderen als Trottel angesehen. Und rein ökonomisch betrachtet lohnt es sich ja wirklich nicht. Intrinsische Motivation und Arbeitsfreude sind bei uns zutiefst verdächtig, und was man vielleicht still beneidet macht man laut herunter, nämlich die utopische Aufhebung des Gegensatzes von Arbeit und Muße, anstatt sie für alle anzustreben.
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