Man fragt sich, wann Jean Paul eigentlich die Landschaften betrachtete, die er so herrlich beschrieb, wann die großen und kleinen Dramen oder auch nur die Langeweile erlebte, denen er einen so präzisen Ausdruck gab. Seine Begegnungen mit Frauen gerieten bei weitem nicht so stürmisch wie die Affären Hölderlins, der weltfremd oder nicht als junger Mann ein Herz nach dem anderen brach. Selbst die Erzkiehung der eigenen Kinder, die ihm unter den wenigen Freuden des täglichen Lebens noch die größte bereitete, verwertete Jean Paul beruflich, indem er mit Levana sogleich ein monumentales Handbuch zur Pädagogik verfaßte.
Ich selbst schreibe seit vier Jahren einen Roman, der nichts anderes tut, als meine Gegenwart gegen die Zeit zu imprägnieren und wenn schon nicht die, wenigstens eine untergesunkene Welt aus dem Meerboden der Vergessenheit heraufzuholen, um es mit dem Satz zu sagen, der auf der letzten Seite von Selina steht:
"Aber ist das Erinnern und Heraufholen untergesunkener Zeiten aus dem Meerboden der Vergessenheit nicht ein Beweis, daß es gleichsam noch ein ätherisches zweites Gehirn gibt, das vlo0ß vom schweren drückenden des Tags befreit zu sein braucht, damit es den feinern ätherischen Anregungen des Geistes folgsam sich bequeme?" [cit. J. Paul]
Mag sein, nur praktisch hat das ständige Erinnern und Heraufholen zur Folge, daß ich vom Dasein, das so wertvoll sei, nichts mehr habe außer Kindererziehung und Schreibtisch. [...] Manchmal frage ich mich, wenn ich so am Schreibtisch sitze: Was denken sie über mich, die mich vom Haus gegenüber immer am gleichen Platz sehen, wachen morgens auf und sehen mich, verbringen alle Tag zu hause und sehen mich, kommen nachmittags von der Arbeit und sehen mich, auch jetzt wieder [...] was macht der da bloß [der da nur am Schreibtisch sitzt; Anm.]?, was ist das für einer?, zumal sie nicht wissen kann, daß die Wohnung nur mein Büro ist und ich darin tatsächlich nichts anderes tue als am Schreibtisch zu sitzen.
Navid Kermani, in "Über den Zufall"
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