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Samstag, 14. November 2015

Zu Slumbewohnern geworden

Es war 1915 allen bewußt, und nur so war es verstanden, und nur so wurde es toleriert, daß die elektrischen Oberleitungen für die Straßenbahn an der Ringstraße in Wien - einem der prächtigsten Boulevards der Welt - offen und zwischen häßlichen Masten und ehrwürdigsten Gebäuden ausgespannt wurde. Die Empörung über diesen als enorm empfundenen Eingriff in das Raumgefühl, der unter heutigem Begriffsverwand meist nur noch als "nur optisch" und damit als unwesentlich abwertend eingeschätzt wird, war groß, und keineswegs auf das Kaiserhaus beschränkt. Dem man diesen Schock ersparte, und die Strecken, die es häufig befuhr, davon ausnahm. In jedem Fall war aber geplant, die Leitungen nach dem Ende des Krieges unterirdisch zu verlegen. Nur fehlten momentan die Mittel.

Ringstraße mit Parlement - Universität (als zwei Lungenflügel!), Rathaus und Volksgarten
Es blieb dabei. Was uns Heutigen zeigt, wie gesund das Sehempfinden der Menschen noch war. Das von den Gestalten ausging, und die Bedeutung des Raumes für die Seele der Menschen wie einer Menschengemeinschaft sehr wohl noch kannte. Wir haben uns heute schon an so viel gewöhnt, gewiß. Aber das macht die Tatsache nicht geringer, im Gegenteil: Wir haben uns an Veränderungen der Tektonik gewöhnt, die uns beeinträchtigt und amputiert hat. Denn es ist die Tektonik, und zwar zuerst die Tektonik des Großraumes, die unsere seelischen Rhythmen und Gestimmtheiten bestimmt, die NUR optische, körperhafte, gestalthafte Bezüge im Raum sind. Als Grundlage jeder alltäglichen Handlung, die von solchen Gestimmtheiten lebt, und aus diesen heraus gestaltet wird. Die Tatsache, daß wir uns dessen nicht mehr bewußt sind, ändert daran rein gar nichts. 

Es macht es nur gefährlicher, noch weitere Einschränkungen vorzunehmen, die das Seelengebäude der Nachkommen endgültig zur Wellblechhütte machen. Die Kleidung der Menschen verrät aber, daß wir in solchen Slums längst angekommen sind. Und Ästhetik zum plastifizierten Zuckerguß degradiert haben, der ab und an aus den Truhen hervorgeholt wird, wenn wir dann so tun, als wäre uns Schönheit und Würde noch ein Begriff. In Wirklichkeit sind es hohle Worte geworden, deren wirkliches Fehlen wir durch propagandistisch forcierte Einführung einer neuen Ästhetik des Zerfalls zu kaschieren suchen. War vor hundert Jahren der '"typische Wiener" der über die Ringstraße flanierende Herr, das Mädel, das sich auf der Ringstraße, diesem Garten der Ergehung, in ihrer höchsten Möglichkeit erlebte, ist es heute der niedrige Prolet, der im Chor der vermeinten Allgemeinheit Gelabere und Dreck zu lieben vorgibt um zu überspielen, daß er unter der Hoffnungslosigkeit leidet, sich nicht mehr zu höherem Menschentum und damit zu meh Freiheit und Daseinsspiel erheben zu können. Weil alles auf Funktion reduziert ist.

Ringstraße heute - Durchzugs-Nichtort- und Technikzentrale für privatime Konsumslums
Als man die Ringstraße mit Drähten überspannte war aber noch allen klar: Es war ein Eingriff in die Würde der Straße, und damit in das, was jeden, der sie durchschritt oder durchfuhr, innerlich höher stimmte, damit sein ganzes Leben hob, weil er  mit diesem Gefühl wieder zurückging in die niedrigen Häuser von Ottakring, oder die Zinskasernen von Favoriten, und damit seine Hütte immer wieder aufhellen konnte. Von Funktion hat noch kein Mensch gelebt, nur vegetiert. Selbst bei der Errichtung der Wohnhöfe in den 1920er-Jahren hat man das noch gewußt, die bereits größte Kompromisse mit puren Notwendigkeiten (Wohnraum für die durch den hierarchischen Zerfall neu entstandene, eher: aus dem seit der Mitte des 19. Jhds. explosionsartigen Wachstum der Reichsmetropole  übriggebliebene soziale Nichtstruktur) darstellten. 

Doch reichte die gestaltende Kraft der Stadt schon damals nicht mehr. Geht man von Technik, von rationalistischem Nutzen aus, findet sich keine Gestalt mehr, die das wesentlich birgt. Dazu hätte man von der Gestalt, der Architektur als Raum der rhythmischen Formung seiner Bewohner ausgehen müssen.

Sodaß heute die Architektur der Vergangenheit zur Kulisse eines technischen Apparats wurde, den bestenfalls die Tourismusmaschine noch braucht, der sonst aber eher hinderlich ist oder von sozial nicht eingeordneten Zuwanderermassen niedergewohnt wird. Denn wie man heute Architektur versteht, zeigt die Peripherie. Die gleichzeitig zeigt, daß man das wahre Wesen einer (und schon gar dieser) Stadt gar nicht mehr versteht, obwohl schon 100 Jahre seit diesen Umwälzungen des Wachstums vergangen sind, in denen man zur Besinnung hätte kommen können.

Karl Marx-Hof , Wien Heiligenstadt - aber man hatte Fließwasser und Bad
Hat der Gemeindebau ehedem Menschen zu "niederen Klassen" zusammengeschweißt, ja gemacht (!), die in ihren Wohnburgen der Schönheit gegenüberstanden, wird er noch heute seine Aufgabe erfüllen - in den Zuwanderern, die diese Trutzburgen - ein Wiener Spezifikum des geordneten Übergangs-Slums inmitten der Stadt* - zunehmend füllen. Die Zuwanderer der letzten Jahrzehnte sind nicht integriert? Es sind noch nicht einmal die meisten Wiener.

Heute empfinden wir das aber gar nicht mehr, und nicht, weil wir es nicht empfänden, sondern weil wir uns aberzogen haben, diesem Empfinden Raum zu geben. Es ist scheinbar klüger so. Somit leben wir längst in einem Seinsbereich, der uns zu Ameisen mißbildet hat. Zu deren beschränktem Wesen gehört, daß sie ihre Kleinheit gar nicht mehr denken können. Sie sind den größeren Maßstäben dafür umso hilfloser ausgeliefert.




Amalienbad, Wien - Einst öffentliche Hygieneanstalt
*Der Wiener Gemeindebau, in seiner typischen Form in den Jahren 1923-1935 entstanden und durch direkte Besteuerung von allem finanziert, das nach "Reichtum und Luxus" aussah,  war eine Architekturbewegung, die interessant, aber nichts desto weniger eine Blüte des Materialismus des 19. Jhds. ist. Mensch und Bedürfen wurde in höchste technizistische Auflösung getrieben, sogar die Ästhetik funktionalisiert. Nun hatte jeder Bad, vielleicht sogar ein WC, und Licht. Dafür waren die Deckenhöhen aussagekräftig genug: Es begann das Zeitalter der +/- 2,40 Meter.  Daß der einhergehende Verlust der Badekultur - zuvor in öffentlichen Bädern zelebriert, wahren Tempeln der Hygiene und Entspannung, vor allem aber der Kommunikation - und vor allem die psycho-sozialen Folgen des Abbaus der Gemeinschaftsräume schwer wiegen könnte, kam im Zeitalter des Individualismus, der Autonomismus als höchstes Ziel sah, niemandem mehr in den Sinn.  Baden aber war zu allen Zeiten in allen Völkern eine Veranstaltung der Gemeinschaft. So wie die Tavernen. Wer je ein "Stammgasthaus" erlebt hat, in dem bei allen und schärfsten Ideenkonflikten ein gemeinsamer Boden der Solidarität und Zusammengehörigkeit blieb, weiß, wovon die Rede ist.

Der Gemeindebau hat übrigens eine nicht minder interessante Gegenbewegung im Kirchenbau provoziert. Die meist wuchtigen, streng linearen "Kirchenburgen" der damaligen Zeit sind ein oft großartiges Pendant zur Zurüstung auf den definitiven Klassenkampf des "Roten Wien". Aber "rot" hört auf, wenn Menschen irgendwann doch Wurzeln suchen. Wenn die Gemeinschaft  mit dem Nächsten mehr zählt, als die künstliche Spaltung der Politisierung. Deshalb wird die "Linke" (samt ihrem Pendant, der "sozialen Rechten") immer von Wurzellosigkeit leben, und deshalb diese fördern.

Wien wurde rot, als die Bäder privatim wurden. Heute gibt es nur noch zwei öffentliche Bäder aus jener Zeit.




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