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Mittwoch, 6. Juli 2016

Drei Merkmale des Richteramtes

Alexis de Tocqueville sieht das Richteramt - weltweit, also in allen staatlichen Gesellschaften - durch drei Merkmale definiert, die wir auf einen schlagkräftigen Punkt bringen wollen: Der Richter SIEHT DAS GESETZ NICHT, er SIEHT NUR DEN KONKRETEN FALL, und er IST PASSIV. 

Was meint er damit?

1. Der Richter wird nur in einem Streit tätig. Besteht kein Streit, sieht der Richter das Gesetz nicht. Seine Aufgabe ist nicht die der Legislative, bessere oder andere Gesetze vorzuschlagen, oder bestehende Gesetze zu kommentieren. Er nimmt zum bestehenden Gesetzwerk nur insofern Stellung, als er es auf einen bestehenden Streit hin auslegt. 

2. Der Richter sitzt nicht über allgemeine Grundsätze zu Gericht, sondern er wird immer nur in einem konkreten Fall tätig. Und nur in bzw. für einen konkreten Fall kann er auch Grundsätze außer Kraft setzen oder brechen. Die Grundsätze selbst sind ihm aber nicht überantwortet. Das würde zwar sein Amt erweitern, aber es gehört grundsätzlich nicht zum Richteramt.

3. Der Richter wird nur tätig, wenn er angerufen wird. Nur wenn jemand ihn bittet, zu vermitteln, nur wenn jemand ihn um Widergutmachung bittet, oder einen Vertrag auszulegen, nimmt er sich eines Falles an. Er braucht eines Anstoßes, von sich aus aber ist der Richter passiv. Von sich aus verfolgt er keinen Verbrecher, fahndet er nicht nach begangenem Unrecht und ermittelt er keine Tatsachen.

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Das amerikanische Rechtssystem gewährt freilich jedem Richter eine Sonderstellung. Dort hat jeder (!) Richter das Recht, Einzelgesetze zu ignorieren, wenn er der Auffassung ist, daß sie der Verfassung widersprechen. Denn in den USA repräsentiert die Verfassung den Willen des Volkes, und dieser ist erste Richtlinie auch für das Recht. Ändert sich dieser Wille, kann sich auch die Verfassung und damit das gesamte Recht ändern. Die Verfassung ändern aber kann weder das Parlament, noch die Regierung. Denn grundsätzlich steht in den USA sowohl das Volk wie der Gesetzgeber zuerst und direkt unter der Verfassung, sodaß der Richter auswählen kann, ob bzw. welchem Verfassungsgesetz er sich mehr verbunden fühlt als dem Einzelgesetz.

Tut das ein Richter, wird ein Einzelgesetz automatisch schwächer. Zwar bleibt es Gesetz, aber sein moralisches Gewicht wird verringert. Denn fortan kann sich in jedem ähnlichen Fall ein Richter oder eine Streitpartei darauf berufen, daß "das Volk" es so und so sieht. Einzelgesetze unterliegen damit in enormem Ausmaß der Macht der Richter, die die ihrer europäischen Amtskollege bei weitem übersteigt. Weil somit das Recht ganz eng mit dem konkreten Einzelfall, dem Streitfall (und damit dem konkreten "Volksbedürfnis") verbunden und dem Einfluß der Politik deutlich entzogen ist. Nicht nur das,  muß der Richter auch kein großes Trara aus seiner Gegnerschaft zur Politik machen und in gewaltige Auseinandersetzungen eintreten, sondern der Einzelfall unterläuft die Politik ganz einfach "heimlich".

Diese Regelung stammt aus dem amerikanischen Gründungsimpuls - Bollwerke gegen jede Form von Tyrannei der Staatsgewalten zu errichten. Denn diese Richter werden ... vom Volk - und zwar auf Gemeindeebene - gewählt! Damit ist sogar gewährleistet, daß es im Recht je nach Rechtsgefühl einer Gemeinde in bestimmten Grenzen lokale Färbungen und Gewichtungen gibt. Etwas, das fast zeitgleich zur US-Verfassung (1776) der Absolutismus (in Österreich die Rechtsreform unter Maria Theresie) im 18. Jhd. in Europa über zentralistische Normierung der Gesetze abgeschafft hat. Denn zuvor gab es auch bei uns zahlreiche lokale Rechte. Den letzten Rest daraus, die Geschworenen- und Schöffengerichtsbarkeit, hat man heute ebenfalls fast schon beseitigt.

In jedem Fall, folgert Tocqueville, wird durch solch eine Zentralisierung der Gemeinsinn - der nur auf Gemeindeebene entstehen kann, denn die Überschaubarkeit und Eigenverantwortung einer Gemeinde ist der Baustein eines Staates - und damit die Vaterlandsliebe geschwächt.





*050716*