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Dienstag, 12. Juli 2016

Filmempfehlung - Wirklichkeiten

"You will  meet a tall dark stranger
- Ich sehe den Mann deiner Träume" (Woody Allen; 2010)


Allen ist ein Nihilist, eine rationale Philosophie, das muß man wissen. Und er entstammt dem Judentum, auch das muß man wissen. Dementsprechend erwartet er weder vom Jenseits etwas, noch von einem Diesseits. Sie sind ihm - so sagt er zumindset "fake". Das Höchste Erreichbare ist ein Daseinsgefühl, das einem erträglich scheint, mit Momenten, die man sogar zum Glück erklären kann. Allens Begriff vom Leben beschränkt sich auf das, "was ist" - und das ist verdammt eng, und die Kostüme platzen verdammt schnell.

Aber in dieser Engführung liefert er uns gewissermaßen hervorragende Beobachtungen aus jenem tiefen Erdloch, in dem er selbst sitzt. Und dieser Film ist ein Zeugnis davon, das in den Filmkritiken viel zu kurz kommt. Denn man erwartet von Allen keine Neuigkeiten, keine neuen Gags. Sondern nur die stets neue Variation, um eine Stufe weiter allerdings, desselben Themas - wie kann man in diesem Leben überhaupt leben, ohne verrückt zu werden? Wie kann man es sich einrichten - ohne wirkliche Transzendenz? Indem man sich eine herbeikonstruiert?

Exzellent (von ausnahmslos allen Schauspielern) gespielt, sicherstes Zeichen eines Drehbuchs mit glaubwürdigen, lebensechten Charakteren und Handlungen, schildert der Film Strategien der Flucht vor dem drohenden Nichts, die die Menschen "Leben" aufbauen lassen, die im Ganzen nur Systeme der Flucht, Scheinwelten sind, die einen darüber hinwegtrösten, daß man keine Wirklichkeit findet, die man für erträglich hält. Denn wenn es keine unsichtbare Wirklichkeit (=Sinn) gibt, wenn das was wir in Händen halten alles ist, dann ist es gleichgültig, ob es wahr oder falsch ist. Dann kann alles gelten, Hauptsache es gibt irgendetwas her, das uns die nächsten fünf Wochen überstehen läßt. Und bis dorthin ist uns hoffentlich etwas Neues eingefallen. 

Alle in diesem Film täuschen sich, die einem mehr, bereitwilliger als die anderen, aber alle letztlich als einigen Ausweg, einem öden, langweiligen Leben zu entfliehen. Jeder Traum und jede Illusion hat mehr Anziehung als der nüchterne Alltag, und wir suchen uns auch den Umgang, der uns in dieser Illusionsblase hält. Was zählt da noch Ehrlichkeit, Offenheit - auch sie: eine Illusion, sie führen zu nichts, machen den Alltag nur zur Hölle 

Und doch hört die Anfrage nach einer wirklichen Wirklichkeit, einem Sein hinter und in allem, nicht auf, nie, und bei niemandem. Irgendetwas treibt uns Menschen doch dazu, immer wieder nach etwas Nicht-Illusionärem zu verlangen, nach Ehrlichkeit zu gieren, etwas in uns gibt sich mit dem Schein denn doch nicht zufrieden. Man will sie doch, die Liebe, man will doch die wirklichen Kinder, man will sie doch die wirkliche Leistung und die wirkliche Anerkennung. Selbst wenn es zum Scheintheater gehörte vorzugeben, auf sie verzichten zu können. Die erweckt (buchstäblich im Film, in zwei Schlüsselszenen!) sogar Tote zum Leben. Und man will sie vor allem, ja fordert sie vom anderen: Wenn man schon selbst flüchtet - der andere, der muß wenigstens wirklich sein, echt sein, der darf nichts vorspielen. Deshalb spielen in dem Film auch die Enthüllungen eine große Rolle - denn den anderen, den deckt man auf.

Womit Allen nicht rechnen möchte, weil er darauf keine Antwort hat, und es doch nicht ganz auch in diesem Film vermeiden kann - was sehr wohl zeigt: Allen GLAUBT an eine Wirklichkeit, an eine wirkliche Wirklichkeit, er findet sie nur nicht, kein Zynismus, keine Ironie, die er sich so mühsam als Lebenspose zusammengeschuster hat, reicht weit genug - ist, daß die Wirklichkeit sich immer wieder meldet, daß man ihr einfach nicht enfliehen kann. Und immer wieder sucht man sie, die Wahrheit, als wollte man sie doch. Wahrheit als die größte Illusion?

Sie ist wie ein Gefängnis, dem niemand entkommt, so sehr er es abschütteln möchte. In harten oder gar brutalen Fakten bricht sie zuweilen ein, die sich keinem Traum mehr fügen und aus einem Lebensgrund kommen, den keiner kennt, der einen immer wieder im Rücken heimtückisch überfällt. Die sogar einer eigenartigen Gesetzmäßigkeit zu folgen scheinen, die wie eine bösartige, schadenfrohe Abrechnung wirken könnte.  Und über die man anderseits doch auch dankbar sein müßte, denn was sonst wäre es denn, das Leben, als nicht diese Aneinanderreihung von Tragödien und Katastrophen (Freude gibt es nur, wenn die Selbsttäuschung gelingt), die man manchmal sogar riskiert. Wie in einem Spielcasino. Was soll's?

Der Gott Allens, vor dem er sich in Wahrheit fürchtet, ist schadenfroh, ein Würfler, ein Zyniker. Auch in diesem Film, denn man ahnt bald und in jeder dieser Geschichten, die hier wie nebeneinander und doch ineinander laufen, was als nächstes kommt. Allen hält es immer wieder auf, durch Szenenmix, durch Auszelebrieren der Dinge. Und das erzeugt sogar eine ungemein dichte Spannung, die sich in diesem dramaturgisch sonst sehr linear gebauten Film linear aufbaut, ohne sich zu lösen. Der Film endet offen, er hat kein Ende, es geht also - weiter. Er hat keine Katharsis. Es gibt keine Entspannung. Es gibt damit auch kein Happy End, weil es in einem sinnlosen Leben kein Ende gibt. 

Da gibt es auch keine Entscheidung, nur Worte die so klingen. Jeder Moment könnte den gerade beschrittenen Weg wieder umstoßen. Ja, kaum hat man so entschieden, scheint das gerade Verlassene wieder wie ein Fremdes, oder immerhin Einschätzbares, und wird damit wieder Option. Als könnte man alte Wege doch auch wieder aufnehmen. Mehrere Figuren versuchen es in diesem Film, andere werden es versuchen müssen, man ahnt es.

Ein solches Leben ist auch ohne Anfang. Selbst bei einer nicht nachvollziehbaren Zeugung, oder in "schon einmal gelebten Leben vor 500 Jahren". Und es ist ohne Ende, auch nach dem offiziellen Tod geht es weiter - in den esoterischen Welten, aus denen man sich in die Welt wieder zurückmelden kann, oder gar nie aufgehört hat, eine Situation zu beenden, etwa in Form eines Toten, der immer noch "da ist", als wäre er unter den Lebenden. Nichts in diesem Film hat einen Anfang. Nichts hat ein Ende. Nur Wirklichkeit hätte diese Bestimmbarkeit. Der Film ist also auch die Geschichte einer kollektiven Flucht vor dem Gericht, einer Flucht vor der Verantwortung.

Denn jeder Traum braucht doch eine gewisse Wirklichkeitsbasis, mit der er arbeiten kann. Bis auch diese wieder reißt, und man in die nächste Schauszene flüchtet. Mit neuen Partnern, neuem Beruf, neuen Anfängen, neuen Beziehungen, neuen Illusionen, neuen Anschauungen. Denn dann muß der Traum neu aufgesetzt werden. Oder man flüchtet zu alten Träumen zurück, die einem einst nicht genügten, bis man entdeckt, da sie noch immer besser waren als der Versuch, einen neuen Traum aufzubauen. In jedem Fall ist der besser dran, dem es gelingt, und sei es daß er zu dumm (oder zu betrunken - auch Trinken also als Schutzmittel) für etwas anderes ist, diese Illusion am hermetischesten abzuschließen. Wie in einer absurden Esoterik.

Manche Träume halten ja vielleicht sogar dann über lange Jahre. Man darf sie nur nicht hinterfragen, und hinterfragen lassen. Dafür dienen dann sogar ganze Weltanschauungen, die man sich zusammenbastelt. Denn eine Strategie zur Bewältigung der wirklichen Wirklichkeit, die so voller Enttäuschungen und Nüchternheiten sein kann, daß man sie am liebsten gar nicht erst kennenlernen will, die gibt es nicht. 

Nicht bei Woody Allen. Ihm mit seinen Filmen - und an diesem wird es deutlich - vorwerfen zu wollen, er sei eben eine Kategorie für sich, laufe außer Programm, wie man es oft hörte, ist einfach falsch. Auch "Ich sehe den Mann deiner Träume" ist eine messerscharfe, ganz tief ansetzende Zeitkritik, ob Allen das wußte oder nicht. Es genügt seine Wahrhaftigkeit, in der er an seinen Figuren klebt. Denen dann die virtuelle Realität, die sich jederzeit mit einem Knopfdruck beenden läßt, nicht mehr reicht. Und das ist sehr wahr.

Und für den Zuseher gilt: Man muß die eigentliche Wirklichkeit der Welt (und eines Werks - alles Weltsein ist Werksein und damit Selbsterzählung des Hervorbringers, und das wäre sogar für Allen der Sinn, der sehr genau weiß, daß er nur im Selbstvollzug leben kann, in einer konkretisierten Welt, beim Machen eines Films etwa) nur sehen wollen. Sie ist da. Man darf nur nicht erwarten, daß es das schon wäre, das Leben. Denn es muß aktiv gelebt werden. Und es braucht - die Wahrheit. Die  mehr ist als ein Sprachkonstrukt. Die mehr ist als in irgendwie herbeifabuliertes Bildschirmbild.

Das macht Allens Zeitrelevanz aus. Denn er zeigt den faktischen Zustand der Gegenwart. Und er zeigt damit, was sich weltweit (zumindest im Westen) abspielt. Wo sich Establishment - als dominierende, ja vorgeschriebene Welt - als etwas präsentiert, das sich hermetisch abgeschlossen hat. Nichts in ihr gründet mehr in Wahrheit oder Vernunft, sondern diese werden nebensächlich, ja zum Störenfried, wenn es um die Illusion von Heil geht. Das ist das Wesen der political correctness, des Klimawahns, des Genderismus, etc. etc., das ist das Wesen der heute herrschenden Moralansprüche. Das ist das Wesen der "zweiten Weisheit", über die hier zuletzt schon so eingehend gehandelt worden ist, die mit Woody Allen einen Priester hat: Schönreden einer an sich sinn- weil wahrheitslosen Welt. Das ist das Wesen einer Verhaltensmoral (und Pastoral), die Denken als störend und irrelevant empfindet. Der nichts störender ist als Wahrheit.

Aber die Welt ist nur in und aus der Wahrheit. Sonst wäre sie nicht. Allen hat also völlig recht, von seinem Standpunkt aus: Wenn der Mensch die eine Wahrheit, nach der er doch so giert, von der er sogar weiß, nicht findet, wird alles zum Spiel von Illusionen, weil es gar keine Welt gibt. Niemand brüllt das lauter hinaus als der, der sagt, daß es keine Wahrheit gäbe. Niemand weiß nämlich besser, was Wahrheit ist, sonst könnte er das Fehlschlagen der Suche gar nicht bemerken. Sie ist keine Frage von Thesen, sondern eine der wirklichen Wirklichkeit.







Nachtrag: Nach Verfassen obiger Anmerkungen, die dem VdZ aus dem Film aufgestiegen sind, fand er ein Interview mit Woody Allen zu diesem Film. Das das oben Gesagte ganz deutlich bestätigt. Leben ist die Ablenkung davor, auf die Wirklichkeit des Nichts sehen zu müssen.









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