"Wenn Kommunismus und Nationalsozialismus in erster Linie als Ideoologien und wenn vor allem ihre Führer als Ideologen verstanden werden, dann wird Hitler als deutscher Politiker ebensowenig richtig gesehen wie Lenin als russischer Staatsmann. Das heißt nicht, daß der eine nicht AUCH ein deutscher Politiker gewesen wäre und der andere nicht EBENFALLS ein russischer Staatsmann.
Aber die Frage geht immer in erster Linie nach dem Überschießen, nach dem Neuen, nach dem Hiatus, die das eigentlich Ideologische ausmachen, aus dem die bedeutendsten Handlungen hervorgehen. Ideologien können sehr unterschiedlich sein, aber jede ist durch dieses Überschießen gekennzeichnet und durch einen Kern von Berechtigtem und Zeitgerechtem, das vielleicht nur durch das ideologische Übermaß zum Dasein gebracht werden kann, das aber eben dadurch auch ruiniert werden mag. [...]
Erst eine neue Situation kann die Nachgeborenen instand setzen, den realen Kern und die irreale Übersteigerung zu unterscheiden; die Z/eitgenossen dagegen ergreifen oder verwerfen das Ganze mit aller Leidenschaft, und erst in diesen Kämpfen kann sich allmählich klären, was Kern und was Überschießen ist. Hitler verstand sich selbst nicht als Nachfolger Stresemanns oder Papens, sondern als Anti-Lenin, und in dieser Auffassung stimmte er mit Trotzki überein [...]
Für Trotzki freilich hatte Lenin ganz und gar recht, und damit hatte Hitler ganz und gar unrecht; aber wer die Überzeugung von der absoluten Wahrheit einre Ideologie nicht teilt, wird allerdings der Meinung sein müssen, daß auch Hitler nicht in jeder Hinsicht unrecht haben konnte, sondern daß in seinen Auffassungen und in seinem Handeln ebenfalls Kerne erkennbar sind, in denen etwas zum Vorschein gelangte, was zeitgerecht und mindestens für zahlreiche Menschen einleuchtend und bewegend war. [...]
[Das betraf sogar gerade die eingängigsten, plakativsten seiner politischen Ziele, die auch von allen Staaten der Welt als normal und richtig anerkannt worden waren. Niemand hat Hitler für verrückt erklärt, weil er und mit ihm ganz Deutschland Versailles als ungerecht empfand, das war auch allen Siegermächten klar, im Gegenteil, die Politik der Welt hat ihn hofiert für seine mutige Vernunft! Und niemand fand es pervers, daß er einen Staat für alle Deutschen wollte, das wollten nach den Verwerfungen 1918 viele Staaten. Und der etatistische Sozialstaat Hitlers war eine Stufe einer Entwicklung, die praktisch sämtliche Staaten der westlichen Welt nach 1945 nahmen und schon damals zeitgleich in der halben Welt eingesetzt hatte, bis hin zu den USA unter Roosevelt.]
Daß [diese Ziele] für ihn jedoch kein Selbstzweck, sondern Etappe zu einem größeren Ziel waren und daß er den Widerständen, die er dabei fand, eine ganz bestimmte und universale Auslegung gab, war das eigenlich Ideologische und bildete eine neue Dimension."
Ernst Nolte, "Der Europäische Bürgerkrieg 1917-1945"
*010916*