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Mittwoch, 12. Oktober 2016

Zerfall durch Gleichheit

In einer Demokratie, schreibt Alexis de Tocqueville, wird der Individualismus zwangsläufig entstehen und zunehmen. Der Einzelne erlebt sich isoliert, er empfindet sich nicht als Glied einer Kette. Damit löst sich auch das Gemeinschaftsgefühl auf, und die Zeitkette - die Verbindung zu Vorfahren wie zu Nachkommen - löst sich auf. Denn ständig tauchen neue Familien aus dem Nichts auf, und andere verschwinden. Wo alle sich als gleich empfinden, braucht keiner mehr den anderen, er wird ihm gleichgültig, weil er nicht von ihm abhängt.

Anders als in der Aristokratie, wo die Gesellschaft eine zusammenhängende Kette bildet, vom einfachsten Bauern bis zum König. Jeder erlebt sich als jemand, der von einem ober ihm abhängt, dessen Protektion er braucht. Aber jeder hat auch jemanden, der unter ihm steht und von ihm abhängt und dessen Hilfeleistung er fordern kann. Alle Menschen sind somit eng miteinander verknüpft. Weil die Klassen und Lebenseinheiten starr und abgegrenzt sind, bilden sie umgekehrt für jeden eine Heimat, ein kleines Vaterland, sichtbarer und teurer als das große. Solche Menschen denken wenig an sich, und sind bereit, ihr Leben für die anderen hinzugeben.

Das ist der Demokratie nicht zu eigen, in ihr zerfällt alles in Individualismus. Dabei unterscheidet sich der Individualismus vom Egoismus noch grundlegend. Egoismus ist eine menschliche Schwäche, die in allen Gesellschaftsformen vorkommt. Er erstickt alle Tugend. Der Individualismus hingeben gründet hingeben im Irrtum und den Verkehrtheiten des Herzens, er ist nicht zuerst ein Laster. Aber er wächst mit dem fortschreitenden Gleichheitsgefühl. Denn der Mensch der Demokratie ist gezwungen, seine Überzeugungen in sich selbst zu suchen. Er ist damit geneigt, sich vom Großen Einen, das die Aristrokratie zusammenhält, abzusondern, und sich Separatgesellschaften zu suchen, aber auch das immer mit Eigennutz. Denn in demokratischen Gesellschaften wird der Mensch gezwungen, sich vor allem um sich selbst zu kümmern, weil keine gesellschaftliche Struktur seine Position wirklich sichert. 

Ein Separatismus, der der Gesamtgesellschaft auf längere Sicht gefährlich wird, weil das alles einende Band gleicher Lebensgesetze fehlt. Dem demokratischen Menschen ist eigen, daß er deshalb in Hörigkeiten fällt, weil nur feste Autoritäten dem Menschen - jedem! - jene Festigkeit zu verleihen vermag, die er zum Leben unbedingt benötigt, will ihm nicht alles und nicht zuletzt sein Wille zerfallen. Denn der demokratische Mensch wird nicht überwältigt, sondern er gibt sich selbst auf. Wo keine Verbindlichkeit der Haltungen mehr da ist, wird das grundmenschliche Bedürfnis (ja, die Notwendigkeit) nach einer festen Grundlage in freier Wahl getroffen. 

Wo alles volatibel - weil scheinbar frei wählbar - ist, wird dem Menschen die seelische Spannkraft geraubt, seine Seele wird zermürbt. Damit wird der Mensch auf die Knechtschaft vorbereitet. Denn zermürbte Menschen werden ihrer Freiheit gar nicht beraubt, das ist gar nicht mehr notwendig, sondern sie geben sich selbst preis. Keine Autorität ist mehr verbindlich, und der Mensch erschreckt angesichts seiner unbegrenzten Unabhängigkeit. Alles bleibt in Unrast, das beunruhigt und ermüdet. 

So wollen sie wenigstens in materiellen Dingen das Feste. Der demokratische Mensch wird also immer nach Sicherheit streben, um diese Feste und Dauerhaftigkeit zu erlangen. Weil er aber zu seinen verlorenen Religionen nicht zurückkann, wird er sich aus geistiger Unruhe einen Herrn schaffen. Denn kein Mensch kann (aus seiner Natur heraus) völlige religiöse Unabhängigkeit und vollkommene politische Freiheit ertragen. (Das entspricht nicht dem Grundverhältnis von allem in der Welt, und das spürt und erlebt zweifellos jeder Mensch von Geburt an: so ist die Welt nicht! sie ist nicht volatil!; Anm.) 

Wer aber nicht glauben kann, wird automatisch hörig. Während es keine Freiheit ohne festen religiösen Glauben gibt, noch unabhängig von der Frage, ob dieser auch das Heil erwirkt oder nicht. Obwohl es höchst sinnlose und falsche Religionen gibt. Bestimmte Vorstellungen von Gott und dem Wesen des Menschen sind aber jedem unerläßlich notwendig, und diese Vorstellungen strukturieren zu allererst und grundlegend all sein Denken und Verhalten, auch wenn ihr Studium den meisten Menschen verschlossen ist. 

Es ist deshalb auch eitel und irrwegig zu meinen, der Mensch könne sich diese Vorstellungen selbst geben, weil sich in diesem Selbstgebungsakt genau wieder seine schon vorhandenen Grundvorstellungen verwirklichen, die aber ohne Autoritätsverhältnis zu verworrenen Verstandesbildern werden, die sich rund um diese unbenannt bleibenden (ja, aus bestimmten Gründen bleiben sollenden!) Grundvorstellungen wie dürres Laub ranken und ein Scheingeflecht bewirken sollen.

Verliert aber gar ein Volk seine Religion, wird die Religion in ihm zerstört, wird es von Zweifel befallen. Als Folge werden seine höchsten geistigen Bereiche zerstört, und dieser Zustand lähmt mit der Zeit die Hälfte seiner übrigen geistigen Kräfte, weil sich jeder an verworrene und und veränderliche Kenntnisse der Dinge gewöhnt. Und zwar gerade in den Dingen, die einen am selbst und seine Mitmenschen am meisten angehen. Man verteidigt seine Kenntnisse zögernd und unzulänglich, und weil man nicht hofft, die höchsten Fragen über die Bestimmung des Menschen lösen zu können, wird das Volk feige und findet sich damit ab, einfach nicht mehr daran zu denken. (Es bekämpft sogar alles, was es dazu zwingen könnte oder daran erinnert; Anm.*)

Übrigens äußerst sich Tocqueville auch zum Islam, der zu seiner Zeit ja noch eine absolute Randerscheinung in Frankreich und Amerika war. Der aber die Lebensvorgänge bis in kleinste Detail hinein zu regeln trachtet. Das ist mit dem demokratischen Menschen völlig unvereinbar und widerspricht dem, wozu dieser geprägt wird. Keine Demokratie kann deshalb den Islam ertragen, und umgekehrt. Das ist im Christentum völlig anders, weil das Christentum auf allgemeine Grundsätze abzielt und sich auf sie beschränkt. Deren Gestalt im Einzelnen weitgehend nicht festgelegt ist, sondern frei und in der Geschichte bestimmt werden muß.




*Man könnte durchaus zu dem Schluß kommen, daß die Vehemenz, mit der zur Zeit eine Debatte um ein "Burkaverbot" gefochten wird, nicht darin seinen Grund hat: Denn die Burka (oder andere Formen der Verschleierung) zwingt viele, sich (über den Islam) mit ihrer eigenen Religion auseinanderzusetzen.





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