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Samstag, 15. Oktober 2016

Die Generation der Überzähligen (1)

Aber bleiben wir in Anknüpfung an das gestern angeschlagene Thema noch ein wenig dabei, bei dieser Generation der Überzähligen, der auch der VdZ angehört. Der eine Schulzeit extremer Selektion erlebte, in der sich ein guter Teil der Schüler wie einen unnötigen Reizblinddarm empfinden mußte. Die Schulen waren allesamt zu klein, hektisch wurde begonnen (!), neue zu bauen, als wäre alles so überraschend gewesen und über Nacht gekommen. Erst in den 1970ern hat sich diese Situation allmählich wieder beruhigt. Es war die Zeit der Spezialschulen. Man begann, das Schulwesen in ein Fachschulwesen zu splitten. 

Der "Nutzen" wurde plötzlich ausschlaggebend, und das kann gar nicht anders sein bei einer Generation, deren Erfahrung die der Nutzlosigkeit und Überzähligkeit war. Handelsakademien, Höhere Technische Lehr- und Versuchs-Anstalten (HTL), Frauenbildungsanstalten wurden zum Trend, der die Allgemeinbildenden Gymnasien (als Vorbereitung zum Studium) nach und nach "entlastete", bis wir sie heute nahezu marginalisiert haben. Das Stichwort von der "Innovation" - und was hat die 1970er, 1980er Jahre mehr gekennzeichnet als "Innovationen"? als der Computer begann, den Alltag zu durchdringen? - wurde prägend. 

Und die große Überschußmenge an Menschen hatte auch kaum eine andere Wahl als sich ständig etwas Neues einfallen zu lassen. Wer also nicht in eine vererbte Identität eingebunden war, war gezwungen, völlig neue Felder aufzutun. Ein Drittel, wenn nicht die Hälfte dieser Generation, davon betroffen, begann, sich alles mögliche Neue einfallen zu lassen. Nicht nur das. Merkmal dieser Generation war auch, daß sie begann, die Nachfage nach diesen neuen Ideen zu "schaffen". Denn die war nicht da! 

Wie oft hat sich diese Situation schon in der Vergangenheit wiederholt. Das 19. Jahrhundert, vor allem ab der Mitte, nachdem die Bevölkerungszahlen in Europa explodiert waren, war ein Jahrhundert der revolutionären Ideen, die allesamt einen Nachteil hatten: Sie waren zuerst beim eigentlichen Stammkreis der Bevölkerung ganz und gar nicht nachgefragt. Sie waren also "links". Die Nachfrage nach ihnen mußte aber erst geschaffen werden - und das taten diese Überzähligen, indem sie begannen, den Hauptstamm, den Kern der Kultur anzugreifen (so weit sie nicht nach Amerika auswanderte). Woraus hätte sich sonst Gebrauchtheit ergeben können?

Zugleich aber lag und liegt in diesen Überzähligen ein enormes Potential an Selbsthaß, denn Liebe wird zuerst durch Gebrauchtheit erfahren: Liebe ist ja die Zusage (und Erfahrung im Geliebten), in jedem Fall gewollt und prinzipiell notwendig zu sein! 

Der sich in ausgesuchter Neigung zur Selbstzerstörung, aber auch zur Zerstörung der Konkurrenten einen Ersatzweg suchte. (Das Mobbing begann sich seine Wurzeln zu bilden, auf die die heutige Blüte aufsetzten konnte.) Das beginnt beim Rassenwahn und endet in der Abtreibung, der heutigen Form der Auslöschung ungewollter Konkurrenz um einen Platz im Leben. Wenn es einen Impuls gab, der die Zeit vor dem 1. Weltkrieg kennzeichnete, so war es das stille Begehren der Überzähligen (Kunst), das Vorhandene, den angestammten Kulturbereich, der sie nicht brauchte, zu zerstören, zu entwerten und in seinen Grundfesten in Frage zu stellen (Psychoanalyse). Selbst die Invertierung der Kunst (Impressionismus - Expressionismus als zwei Seiten derselben Medaille) ist als Reaktion zu verstehen, in der sich eine im Außen untergehende, unnötige Generation neue Welten suchte.

Als der VdZ 1985 ein Bauunternehmen (Holzhäuser) gründete - aus demselben Impuls: Er erfuhr sich im vorhandenen Betrieb als nicht integriert und integrierbar, also mußte er seine eigene Welt schaffen - war die größte Frustration des Anfangs, sich nunmehr auf einem reinen Verdrängungsmarkt wiederzufinden. Der ihm im Grunde täglich signalisierte: Eigentlich brauchen wir dich nicht! Das "Produkt" gibt es bereits und die Unternehmen, die es herstellen. Also begann er zum einen, an einem Produkt zu arbeiten, das "neu" war. Und zum anderen, die Nachfrage danach zu steigern, in dem er begann, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, in der er das Herkömmliche in Frage stellte. (Was angesichts der unglaublichen Bausünden der 1970er Jahre gar nicht so schwer war.) Und zu Anfang bediente er sich dabei durchaus der damals aufkommenden Weltuntergangsszenarien: Umweltverschmutzung, und vor allem dem aufgekommenen Gesundheitswahn, der damals noch eine Randerscheinung (der Überzähligen ...) war. Damit wuchs das Unternehmen mit enormer Geschwindigkeit: Die Menschen mußten ihr Leben zu ändern bereit sein war die Botschaft dabei. Und schon sehr viele waren es.

Das alles gibt er unumwunden zu, und er tut es mit dem Empfinden von Reue (bzw. begreift er die Gegenwart auch als Sühne für die eigenen Sünden). Eine Schuld, die sich nur abschwächt, daß er bald erkannte, daß da etwas nicht stimmte. Denn aus all diesen Ideen waren überall schon Religionen geworden, denen er als Priester dienen sollte. Denn er bot eines jener Produkte an, wie sie damals überhaupt aufgekommen waren (IKEA zeigt es am deutlichsten): Produkte, die einen Lebensstil verkörperten, und es war ein revolutionärer Lebensstil, der vor keinem Bereich und Tabu Halt machte. Das ging so weit, daß er in großem Stil sogar Häuser für Migranten nach Deutschland lieferte. Also zog er 1991 die von kaum jemandem verstandene und tatsächlich nur schwer zu verstehende Reißleine ... das Wissen um die letzthinnige Sinnlosigkeit und Widersprüchlichkeit zu seinen eigenen Lebenshaltungen war ihm nicht mehr zu bewältigen.

Widersprüchlichkeit, die aber in einer Art Notwehr entstand. Die ihm vermeintlich keine andere Wahl ließ als "neue Welten" zu erschaffen, die tatsächlich neue Welten waren: Weil sie nicht einfach nur eine Aufgabe waren, sondern die sich auch aus neuen Motiven heraus diese Aufgabe erst schuf. Motive, die aber gleichfalls erst zu schaffen waren. Indem sie die Menschen dort packten, wo es um die geistigen Grundlagen ihrer gesamten Lebensweise ging. Waren sie davon überzeugt, fanden sie diese neuen Bedürfnisse in der vorhandenen, etablierten Welt nicht mehr befriedigt. So entstand ein "neuer Markt", dem die alte Wirtschaftswelt in gewisser Hinsicht zumindest zu einem großen Teil und vor allem: strukturell, hilflos gegenüberstand. 

Morgen Teil 2)  Von der Sühne unserer eigenen Taten, 
die wir im Leiden an der Gegenwart zu tragen haben 
- Man steht immer in einer Generationenkette




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