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Mittwoch, 5. Oktober 2016

Dennoch nicht gelungene Auslöschung

Um Mitternacht vom 16. auf 17. Juli 1918 wird die Zarenfamilie geweckt. Sie hat ihre Koffer bereits zuvor auf Anweisung der Arbeitersoldaten, die zwei Wochen zuvor extra aus Moskau angereist waren und die bisherige Wachmannschaft abgelöst hatten, gepackt. Man müsse das Haus verlassen, die Tschechen stünden vor der Stadt und würden in spätestens drei Tagen hier sein, sagt der Kommandant der Wachen, Jakob Jurowski. 

Ein eiskalter Profi. Mit ihm hat sich das Klima in dem Haus in Jekaterinenburg schlagartig geändert, alles haben es gemerkt. Nun ist das Ende da. Die neuen Soldaten sind keine Wach-, sondern ein Exekutionskommando. Es erledigt dort einen Job, mit Jurowski die zehn neuen Soldaten, darunter mindestens fünf Ungarn, ehemalige Kriegsgefangene. Von ihnen nimmt man an, daß sie keine persönlichen Skrupel haben werden. 

All die Wachmannschaften zuvor hatten stets nach kurzer Zeit mehr oder weniger starkes Mitgefühl gezeigt. Die Gefangenen waren alles ander als die Monster, als die man sie verschrieen hatte. Sie waren in der Wahrnehmung der Soldaten sympathische, ja äußerst liebenswürdige, "normale" Menschen.

Besonders von der offenen und umgänglichen Art der Zarin. Ihr Interesse an den Familien der Soldaten ist echt. Noch mehr aber beeindruckt die ruhige, sanfte, liebevolle und unkomplizierte Art des Zaren. Der sich gerne unter die Soldaten mischt, mit ihnen abends beim Tisch sitzt und plaudert und trinkt. Der Zarewitsch ist ein aufgeweckter, hübscher, lieber (aber eben kränklicher) Bub, der gerne manchen Schalk treiben würde, und die vier Töchter fröhlich, leutselig, sympathisch, und außerdem alles andere als unschön. Manche beginnen sich Sorgen zu machen, wie man die Familie beschützen, oder überlegen gar, wie man sie befreien könnte. Es existieren Briefe.

Das Zarenpaar glaubt zu Recht, daß das einfache Volk nach wie vor auf ihrer Seite steht. Denn es ist im Rußland von 1918 nicht anders als überall und immer: Revolutionen gehen nie vom Volk aus. Sie gehen immer von Teilen der alten Führungsmannschaft und von ehrgeizigen Neu-Eliten aus.

Solche Soldaten braucht man im Juli 1918 gerade nicht. Die Familie - Zar Nikolaus II., seine Frau Alexja, die vier Töchter, der Thronfolger, der Kammerdiener des Zaren, der Leibarzt, der Koch, die Zofe der Zarin - wird in einen Raum im Erdgeschoß verbracht. Dessen Fenster sind vergittert. Dort stehen ihnen nun elf Soldaten gegenüber, denen man Mauser-Pistolen deutscher Provenienz ausgehändigt hat. Man müsse hier auf die Fahrzeuge warten, heißt es. Der Zar bittet um drei Stühle, für seine Frau, für sich, und den Sohn, der seinen letzten Bluteranfall gerade überstanden hat und vor Schwäche noch nicht wieder gehen kann. Vorne sitzen der Zar, seine Frau, der Sohn, den der Vater mit einem Arm stützt, dahinter stehen die anderen.

Jurowski tritt mit seinen Tschekisten ein. Er sagt, daß man gezwungen sei, sie zu erschießen, denn es hätte einen Befreiungsversuch gegeben. Der Zar steht auf, geht auf ihn zu. "Was ...?" Jurowski nimmt seine Pistole, setzt sie dem Zaren an den Kopf, drückt ab, Nikolaus ist sofort tot. In dem Augenblick beginnen alle Soldaten zu schießen. Elf Pistolen zu je zehn Schuß auf noch zehn Personen, jeder hat zuvor eine Person zugewiesen bekommen. Der Putz der Mauer hinter den Erschossenen ist nach der Tat weitgehend abgebröckelt.

In dem mit Pulverdampf und -gestank ausgefüllten Raum wurde es nun mit einem male still. Der Boden schwimmt von Blut. Aber da war noch immer Leben. 

Alexis, der Thronfolger, stöhnt plötzlich und greift mit geschlossenen Augen nach dem Mantel seines bereits toten Vaters. Ein Soldat geht hin, tritt mit aller Kraft gegen seinen Kopf, Jurowski schießt ihm zweimal ins Ohr. 

Dann ist da noch die Zofe. Sie ist nur leicht verletzt. Sie wacht auf, und rennt nun verzweifelt weinend an der Mauer auf und ab. Die Soldaten laden aber nicht neu, sondern holen aus dem Nebenzimmer Gewehre mit Bajonetten und versuchen nun, die Rennende zu erstechen. Sie versucht sich mit dem Kissen zu wehren, das sie kurz zuvor der Zarin noch in den Rücken stecken wollte und noch immer in der Hand hält (denn darin befindet sich eine Schatulle mit den letzten Juwelen der Zarin). Am Schluß liegt sie mit dreißig Bajonettstichen tot am Boden. Dem winselnden Cockerspaniel des Thronfolgers zerquetschen sie mit Gewehrkolben.den Kopf.

Und auf einmal bewegt sich auch die jüngste Tochter, Anastasja, die verletzt das Bewußtsein verloren hatte. Sie schreit. Mit Bajonetten und Gewehrkolben fällt die gesamte Horde über sie her. Dann ist auch sie still. Man vermutet heute, daß es die in die Kleider und Mieder eingenähten Juwelen waren, die die Kugeln zum Teil abprallen haben lassen. Um Anastasja knüpft sich später die Legende, sie habe überlebt. Heute weiß man: auch sie wurde damals ermordet.

Im vorher gut ausgesuchten Steinbruch in einem Wald in 20 Kilometern Entfernung zerkleinern die Soldaten die Leichen, verbrennen die Stücke mit viel Benzin, und versuchen in Säure aufzulösen, was immer noch übrig ist. Dann werfen sie die Asche und was immer noch übrigblieb in einen Tümpel am Grunde des Bergwerks. Nach drei Tagen sind sie fertig.

Noch immer aber ist genug übrig, um später recht sicher die Leichen zu identifizieren. Der zerbrochene Ring, den der Zar nie mehr abnahm, weil er zu eng geworden war. Ein ganzer Finger, sehr sicher von der Zarin. Ein zerbrochenes Kreuz mit Smaragden, intimes Stück der Zarin. Miederreste. Reste von Mützenbändern. Knöpfe. Und vor allem - die Skelette. Gentests haben 1993 (und 2008, als die letzten beiden Skelette afu der Schweinswiese gefunden wurden) erbracht, daß die auf dieser Wiese gefundenen Leichen  zweifelsfrei die Überreste der Zarenfamilie sind.

Es gilt als recht sicher, daß Jurowski noch einmal zum Steinbruch zurückkam, um die Leichenreste besser zu entsorgen. Sie bargen angeblich die noch immer vorhandenen Überreste um sie tiefer im Wald zu vergraben. Aber der Lastwagen blieb stecken. Also vergruben sie diese Reste, nachdem sie noch einmal Schwefelsäure darübergeschüttet hatten, dort, wo sie gerade waren - einer Wiese, genannt "Schweinewiese".

Einer der Täter, der stolz Details erzählte weil er überzeugt war, daß man niemals entdecken würde, was hier geschehen war, wird später sowjetischer Botschafter in Polen. Nach Swerdlow, dem Verantwortlichen in Moskau, wird später Jekaterinenburg umgenannt. Es heißt heute Swerdlowsk.

Nikolaus II. wurde im Jahre 2000 samt seiner Frau und seinen Kindern von der russisch-orthodoxen Kirche heiliggesprochen.

Nur wenige Romanows entkommen im Rußland von 1918 aber der kommunistischen Säuberung. Viele wurden brutal ermordet. Erschlagen, erschossen, erwürgt. Eine ganze Familiengruppe, darunter die Schwester der Zarin, wurde lebendigen Leibes in einen Bergwerksschacht gestoßen. Dann warf  man Balken und Handgranaten nach. Aber nicht alle waren gleich tot. Ein Bauer, der alles heimlich beobachtet hatte, schlich später heran und hörte Hymnengesang. Als die "Weißen" einlangten waren zwar alle tot. Aber ein Junge etwa hatte eine mit dem Taschentuch der Großfürstin sorgsam verbundene Wunde am Kopf.

Vom mythischen Vermögen der Romanows war schon lange nichts mehr da, selbst der Zar hatte sein Privatvermögen im Krieg fast vollständig hergegeben, die Zarin Lazarette finanziert usw. usf. Selbst die privaten Auslandsguthaben auf Banken waren nach Rußland transferiert worden, um den Krieg zu finanzieren. Anders als der Schwammkopf der Bildungsproduktion der Gegenwart glaubt, war das meiste, dessen sich Herrscher bedienten, ja ohnehin nie als Privateigentum verstanden. Auch die prächtigsten Kronjuwelen wurden als Staats- und Volksgut betrachtet, und viel von dem, was als "Prunk eines Herrscherhauses" gessehen wird hatte nie ein anderes Ziel als Steigerung der Volkskultur. In einem Staat, der einem Herrscherhaus ehelich verbunden bzw. von diesem in Verantwortung von Gott geführt wurde.

Von dem, was an Privatbesitz noch da war hatte die Familie so viel wie möglich - eingenäht in Knöpfe, Nähte, Säume der Gewänder - in die Gefangenschaft zu retten versucht, um sich dort ein halbwegs erträgliches Leben zu finanzieren. Das meiste fand sich in Trümmern und Bruchstücken im Steinbruch in Jekaterinsk. Selbst die Witwe des Zaren Alexander III., die im Volk so überaus beliebte Maria, Mutter von Nikolaus II., konnte nur ein wenig Schmuck nach Europa retten, war ansonsten auf die Gnade ihrer Verwandten angewiesen. Die nicht immer großmütig ausfiel. Der dänische König, ihr Vetter, ließ ihr sogar alle Lichter in dem Haus abdrehen, das sie einige Zeit bewohnen durfte, denn der Strom war ihm zu teuer. Die Familie Romanow - die in männlicher Linie allerdings bereits 1741 ausgestorben, im strengen Sinn also: erloschen ist, heue nur noch "verwaltet" wird - existiert in Europa nur noch in einigen Nebenlinien. Weltweit gibt es noch 60 Familienmitglieder. Das Oberhaupt heute ist Prinz Georgi Michailowitsch Romanow von Preußen.

Rußland aber taumelte in ein Regime, das Millionen Tote zu verantworten hat, und das in historisch noch nie dagewesener Totalität die russischen Menschen und Völker unterdrückte.




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