Ich kenne kein Land, schreibt Alexis de Tocqueville in "Über die Demokratie in Amerika", in dem im allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und wirkliche Diskussionsfreiheit herrscht als in Amerika. Den Grund dafür sieht er im Mehrheitssystem, dem er vorwirft, keine wirksamen Schranken zu haben, um seine Tyrannei zu verhindern. Wenn aber eine Mehrheit das Recht hat, sowohl die Gesetze als auch die Gesetzesvollziehung zu kontrollieren, vollzieht sich automatisch, daß sich auch eine vormalige Opposition dieser Mehrheit eingliedert. Denn alles, wirklich alles liegt nun in der Hand der Mehrheit.
In der Demokratie passiert aber nicht nur das, sondern sie greift gar nicht nach den Äußerlichkeiten, bleibt damit nicht äußerlich wie die schlimmste Despotie, sondern sie greift nach dem Willen. Die Mehrheit ist jene Macht, die nicht nur das Vorhaben, sondern auch den Willen zur Tat vereitelt. Denn man hat nur Überlebenschance, wenn man sich der Mehrheit eingliedert. Diese kann nämlich alles verhindern. Sie kann vor allem verhindern, daß von einer Minderheit Notiz genommen wird, sie kann selbst den größten Gedanken und Männern den Ruhm verwehren, der ihnen gebührte. Keine Monarchie hat das je vermocht.
In einer Demomkratie stößt man in der Mehrheit auf eine geballte, zusammengefaßte Macht des Erfolges, außerhalb derer gar nichts mehr geht. Die Mehrheit kann verhindern, daß wer die Wahrheit sagt auch nur eine einzige Hilfe findet. Dazu ist keine Monarchie fähig. Ist deren Regierung hart, hat man das Volk auf seiner Seite. Ist das Volk gegen einen, kann ihm sogar der König helfen. Ist das Land demokratisch, kann ihm die Aristokratie helfen, ist es absolutistisch, die Demokraten. Wer aber in Amerika gegen die Mehrheit steht, steht allein.
Die Mehrheit zieht einen drohendenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist man frei zu sagen und zu schreiben, was einem beliebt. Aber wehe, diese Grenzen werden überschritten. Die Nachstellungen werden ihm bis ins Private folgen. Politische Laufbahnen sind ihm verschlossen, er hat die einzige Gewalt, die sich ihm eröffnen könnte, beleidigt.
Tyrannen arbeiten mit Ketten und Henkersbeilen als Werkzeuge. Heutzutage aber hat die Demokratie sogar den Despotismus noch vervollkommnet, von dem es doch hieß, er hätte nichts mehr zu vervollkommnen.
Die Fürsten haben die Gewalt sozusagen veräußerlicht; die demokratischen Republiken unserer Tage haben sie auf die geistige Stufe des menschlichen Willens gehoben. Unter den absoluten Herrschern schlug der Despotismue, um den Geist zu treffen, den Körper - eine grobe Methode; denn der Geist erhob sich unter den Schlägen und triumphierte über den Despotismus. In den demokratischen Republiken geht die Tyrannei ganz anders zu Werk. Sie kümmert sich nicht um den Körper und geht unmittelbar auf den Geist los.
Der Machthaber sagt nicht mehr: "Du denkst wie ich, oder du stirbst!"
Er sagt: "Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie wir. Leben, Vermögen und alles bleiben dir erhalten. Aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird die nicht mehr nützen. Denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie sie dir.
Du wirst weiter unter den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern willst, so wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen. Und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet man auch ihn.
Gehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod."
Die Mehrheit lebt in einem Zustand ständiger Selbstbewunderung. Nur durch Ausländer oder durch eigene Erfahrung kommen ihr gewisse Wahrheiten zu Ohren. In ihr selbst ist jede wirkliche Selbstkritik erstickt, und nur Lob zugelasssen.
Die Inquisition hat niemals verhindern können, daß in Spanien Bücher umliefen, die der Religion der Mehrzahl widersprachen. Die Herrschaft der Mehrheit in Amerika kann es besser: sie hat sogar den Gedanken getilgt, sie zu veröffentlichen. Man trifft in Amerika Ungläubige, aber der Unglaube findet dort sozusagen keinen Mund.
*250816*