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Dienstag, 21. Juli 2020

Leitbild Patentscheißer

Aus dem September 2010 stammt dieser Beitrag, der den deutschen Politiker und Industriellen Walther Rathenau zitiert. Denkt man an ihn, so meist ohne die Widersprüche zu sehen, in die man ihn posthoc steckt. Die Farbe, in der er gesehen wird, ist durch seinen Tod (die Ermordung durch deutsche Nationale) zu fest geprägt um noch Raum für eine Sicht zu lassen, in der Rathenau als präziser Denker und Analytiker des kulturellen Zustands von Deutschland erkannt werden könnte. 

Denn das ist er! Besonders bemerkenswert ist dabei, daß dieser Sohn des Mitbegründers der AEG, der als sehr vermögend bezeichnet werden muß, die zivilisatorische Entwicklung höchst kritisch gesehen hat. Zu sehr wird auf Technik gesetzt, das eigentlich Menschliche dabei kommt unter die Räder. Dabei ist gerade das jenes Kapital (oder jener Gründungsschaden), der diesem Land und Volk eine Zukunft gibt. Oder nicht. Das Umbrechen sämtlicher Lebensvorgänge in technische Abläufe erwürgt das Schöpferische. Ohne dieses aber kann kein Volk bestehen, oder sich gar entwickeln. Es degeneriert, allem technischen Fortschritt zum Trotz, ja gerade deswegen.

Die Technik schwächt den Menschen, wird sie zum ständigen Begleiter seiner Lebensgestaltung. Nicht nur verdunstet dabei sein Existieren, das ein ständiges Aktivieren der seelischen Kräfte im Hinausstrecken in die Welt ist (genau das versucht ja die Technik zu ersetzen), sondern sie prägt seine seelischen Strukturen nach ihrer Charakteristik. 

Läßt sich der Nutzen der Technik noch exakt beschreiben, denn sie bezieht sich ja auf die Erledigung konkret definierter Arbeit als deren Sinn, so wird einmal der Kollateralschaden, den sie anrichtet, meist gar nicht bedacht, und dann ihre indirekte Wirkung auf den Menschen, die auf einer ganz anderen Ebene liegt, völlig verdrängt oder gar nicht erkannt. Weil die Schäden durch die Anwendung von Technik aber mehrenteils eben auf einer anderen Ebene liegen, werden sie so gut wie immer auch in falsche Ursache-Wirkungs-Beziehungen gestellt. 

Oder wie heute, nach hundertfünfzig Jahren exzessiven Einsatzes von Technik in unseren Ländern, von einer Basis aus bewertet, die selbst bereits von den Gesetzen der Technik geformt ist und einen anderen Urteilskreis als den des spezifischen Nutzens gar nicht mehr kennt. So werden viele Schäden sogar noch als Vorteile und Errungenschaften gefeiert, weil nur ein spezifischer Nutzen gesehen wird.

Man denke an das linear-logistische Denken, das aus dem Funktionieren eines Computer-Software-Ablaufs die gesamte Denkstruktur eines Menschen zu bestimmen versucht. Sodaß mit dieser Technik Betraute in der Regel gar nicht mehr in der Lage sind, ihre Entscheidungen in einem größeren Rahmen als in dem von Abläufen, zu denen sie die gesamte Welt "machen".

Die Technik, die uns mittlerweile fast zur Gänze umgibt (welche Lebensabläufe gibt es noch, die NICHT von der Anwendung von Maschinen oder Ablaufschienen bestimmt sind?) prägt mittlerweile nicht nur gefährlich unsere gesamte Weltsicht, sondern sie hat das Denken unseres gesamten Kulturkreises ruiniert. Das nicht mehr den Rückschluß auf die wirkliche und gesamte Wirklichkeit sieht und sucht, sondern nur noch lineare und mehr oder weniger reduzierte Logikkreise kennt. 

So überträgt sich schon längst der Mythos, der in der Maschine steckt, auf die Weltsicht, besonderst bei Jungen: Es ist der Mythos der Magie, einer völlig von Menschen beherrschten, beherrschbaren und geschaffenen (sic!) Welt. Über die Anwendung von Maschinen erfährt der Mensch auf indirekte Weise also (siehe oben) eine komplett neue Weltanschauung und Grundhaltung der Welt gegenüber. 

Das hat aber nicht nur "Vorteile", sondern es überfrachtet uns erst unmerklich, aber mit den Jahren immer diktatorischer mit einem gar nicht mehr eingrenzbaren Verantwortungsgefühl. Aus dem heraus wir uns nach und nach gedrängt fühlen, buchstäblich ALLES auf der Welt bestimmen zu sollen und zu wollen. 

Gott gleich, wird das Schicksal der Welt als in den Händen des Menschen liegend betrachtet.  Von welchem zu sprechen nur Sinn hat, wenn man diesen Gott auch ganz real weil das Ganze bestimmend, wollend, gestaltend, also geschichtstragend und konkret denkt und sieht. 

Sogar der Kult wird zur technischen Produktion von "Heil", also zum lächerlichen Pseudogeschehen. In dem der beschworene Gott entweder zum willkürlichen, irrationalen Dämon wird, oder (und) zu einem letztlich von mir selbst beherrschten Funktionselement der eigenen Lebensführung.

Deshalb und nur in dem Maß kann es Heilung zur Glücksfähigkeit (die eben nicht, wie die Technik suggeriert, in einem alle irdischen, nützlichen Bereiche umfassenden "Wohlergehen" aufgehen) geben, wenn der Mensch wieder Realitätsfundierung erlangt. Wenn er gerade die absoluten Gründe der Welt und von sich selbst in einem realen, seine Realität zutiefst bestimmenden Seinsgrund begreift. Nicht konstruiert, sondern erfaßt, also als wirklichen Beweggrund der Welt zu sehen vermag. 

Denn er sieht sie nicht mehr! Gott wird so zu einem fernen, abstrakten, über allem schwebenden Ideenkonstrukt. Ergebnis der Blindheit, die die Technik wie ein schleichendes Gift in uns allen hervorbringt. Umso kulturbestimmender, als unsere Eliten schon zu solchen Patentscheißern wurden, wie Rathenau sie in ihren Grundzügen beschreibt.

Die damals in der Form von schmißwuscheligen Saufkumpanen auftraten, die sich heute aber mit Schlabberpulli angetan in veganen, "fair-trade" propagierenden Edeltrinkstuben einfinden. Die dieselbe Funktion erfüllen, wie die Brauhäuser und Ratsstuben anno 1910: Sie bilden Götter heraus, Menschen, die sich unter ihresgleichen wissen, und Bestätigung des jeweiligen Gottesstatus verlangen. Der alleine verbirgt, daß ihr Wesen Ungehorsam dem (ganzen, umfassenden, alles begründenden wie in sich bergenden) Sein gegenüber hier, tote Ablaufstarre dort geworden ist.

Die zwar keinen Schmiß an der Wange ausweisen, aber lediglich deshalb, weil sie andere Formensprachen der starren Signaturen des Erwähltseins benutzen, zu der auch die Verachtung dieser alten Formen (weil jeder Tradition) gehört. Und das sich wie damals aus der "überlegenen Moral" konstituiert, die zu jedem selbstherrlichen Eingreifen in die Welt berechtigt, auch wenn es die Freiheit und Würde des anderen zerstört. Die somit also das Recht zur Freiheit patentiert haben, das man aber allen abspricht, die nicht zu dieser Elite gehören, und dies dadurch zeigen, daß sie deren Parteiabzeichen nicht am Revers trägt.

 
Hier also nun das Zitat von Rathenau.
"Als Typus der hoffnungsvollen Jugend, die Aussicht auf "Karriere" hatte, der Patentscheißer, aufgeschwemmte Burschen, schnöde und zynisch im Auftreten, mit geklebtem Scheitel, gestriemten Gesichtern, Reiterstegen an den gestrafften Beinkleidern, schnarrender Stimme, die den Kommandoton des Offiziers nachahmte. Den Hochschulbetrieb verachteten sie, die kümmerlichen Prüfungsreifen erlangten sie durch sogenannte Pressen, ein feindseliges und herausforderndes Wesen trugen sie zur Schau, außer wenn es sich um Konnexionen handelte, ihre Zeit verbrachten sie mit Pauken, Saufen und Erzählen von Schweinereien. Solche Gestalten wurden geduldet, ja anerkannt; sie waren bestimmt, zu denen zu gehören, die das Volk regieren, richten, lehren, heilen und erbauen.
Walther Rathenau über den Typus, der um 1900 die Berliner Hochschulen als künftige Elite bevölkerte. 
Jener Typus also, der 1914 an der Spitze Deutschlands stand.
Man konnte, schreibt Rathenau, dieser Schichte, ihren Vertretern
in Beamtentum und Militär, nur von oben beikommen;
von unten ließe sie sich nur
strategisch umgehen, nicht durchbrechen.
*280910*


*200720*