Dieses Blog durchsuchen

Freitag, 3. Juli 2020

Weil es hier keine Indianer gibt

Als er die Bilder zu den Black Lives Matter-Demonstrationen in Wien sah, fiel dem VdZ eine Anekdote ein, die sich vor über zwanzig Jahren ereignete. Damals lebte und schrieb er in einer großartigen Terrassenwohnung über den Dächern Wiens, und genoß, wiewohl eigentlich in einer Millionenstadt, ein fast dörfliches, provinzielles tägliches Schauspiel auf den Straßen. Das hat wohl immer den Charme Wiens (und gewiß nicht nur Wiens) ausgemacht, daß man zwar einerseits Sitz und Herz eines großen Reiches und großer Ideen war, daß aber andererseits das Lebensumfeld eines Dorfes der Wiener hatte. 

Wien hat seine Lebensqualität, deretwegen die Stadt so gerühmt wurde, den zahllosen kleinen Räumen zu verdanken, die es dort gab. Den Grätzln, den Kleinbezirken, wo sich jeweils einige Straßenzüge, die sich irgendwie um ein Zentrum gruppiert hatten, in zahllosen Kleinigkeiten, Gebräuchen, Sitten, Sprachwendungen und Sprecheigenheiten voneinander so markant unterschieden, daß der eingefleischte Wiener schon am Aussehen, an der Gestalt und am Zungenschlag auf der Straße genau wußte, woher der Gegenüberstehende stammte. 

Die Wiener waren nicht "in Wien" verwurzelt, sondern in ihren Grätzln und Straßenzügen, in ihren wirklichen Lebensräumen. Noch einmal, das ist freilich nicht nur in Wien so (gewesen), das ist in allen Städten der Welt (gewesen), sonst wäre es nirgendwo lebenswert (gewesen). Das Universalistische, Abstrakte vermag nie zu verwurzeln, sondern es läßt des Menschen Seele leer und bodenlos, und deshalb auch so gefährlich, als Fremdes, das das je Eigene verdunkelt und zerstört, wo es noch wäre. 

All diese unzähligen Kleinräume waren auch voll mit Sonderlingen und Eigentümlichkeiten, die oft genug zum Schmunzeln anregen konnten. Sie machten auf jeden Fall ein Klima der Liebenswürdigkeit sichtbar, um das man weinen muß, denn es ist mehr und mehr verschwunden. Ja, es wird seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und im 20. Jahrhundert in größenwahnsinnigem Lebensbemächtigungswahn sogar gezielt zerstört - "umgestaltet" - worden.

Aber noch vor zwanzig Jahren fand man solche Eigentümlichkeiten. Auch auf den Straßen in jenem Wiener Grätzl in einem Bezirke "über der Donau". Nicht weit von jenem Kirchenbau entfernt, der als Kathedrale und Bischofssitz für eine vor hundertfünfzig Jahren unausbleiblich scheinende Teilung der Stadt und des Erzbistums angedacht und zu bauen begonnen worden war. Den man dann aber in einem Ernüchterungsschub zur Pfarrkirche reduziert hatte, die noch heute ihre ursprüngliche Sendung erahnen läßt. Und sei es durch den Platz, auf dem sie steht, und der eine geistige Größe vermittelt, der es heutigen Stadtplanungskonzepten so bedauerlich fehlt. 

Zum Alltagsbild dort, jedenfalls, gehörte auch ein damals schon älterer Mann, der mit seinem Schäferhund, der neben ihm hertrottete, seine täglichen Spaziergänge (oder soll man sie Inspiziergänge nennen?) unternahm. Sein braunes, schulterlanges, glattes Haar begrenzte er mit einem Stirnband, dessen Muster schon erklärte, warum man ihn "den Indianer" nannte. Diese Identität war kein Spott, sondern offensichtlich von ihm selbst so gewählt und gewollt, und seine Kleidung, sein Habitus ordnete sich entsprechend. Genauso, wie sein Alleinsein. Wie gesagt, es war nichts von Spott dabei, ursprünglich, wäre nicht seine Bemühtheit, sich als "Indianer" in jeder Hinsicht zu präsentieren, diese typische Tautologie des Narziß, der sich selbst spielt, aber nie ist, was zu sein er vorgibt. Und es versuche mal jemand, der in Wien - und das heißt immer: in einem Grätzl - geboren ist, "zum Indianer zu werden". Der wird bald sehen, wie (naiv gesagt) schwierig das sein kann. 

Dem VdZ ist es nie passiert, aber es wurde ihm zugetragen, daß es auch wenig Erfreuung enthielt, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Denn dieser Urwiener hatte eine Agenda, und das war die Sorge um die Indianer. Nun, es ist gewiß nicht so leicht, im alltäglichen Brotkaufen, an den Arbeitsstätten, in der Obsorge um Kinder, Weib und Hund auch noch Herzensraum für die Problematik eines Oglalla zu schaffen, dem man ein Stück Prärie heimtückisch abgeluchst hat, so tragisch oder furchtbar da vieles auch gewesen sein mag. Aber kein Wiener muß Sorge haben, daß er sein Seelenheil verfehlt, wenn er sich nicht dafür interessiert. Oder nicht über eine Petition an den US-Kongreß in Washington die Herausgabe eines Stückes Wald in Minnesota verlangt, das in der üblichen Art und Weise - dem Vertragsbruch, der meist einfach ein heimtückisches Unterlaufen von Vereinbarungen war, die in perfider schizoider Taktik der Sprache und damit der Vernunft entzogen wurden - im Jahre 1878 "unrechtmäßig" dem dortigen Cheyennevolk gestohlen wurde. Nein, zum Wiener-Sein gehört nicht unbedingt, sich dafür interessieren zu sollen, ganz gewiß nicht.

Anders für jenen einsamen Wolf. Der zwar jede menschliche Gesellschaft zu meiden vorgab (dabei sich, eiderdautz, umso eifriger als lebendige Botschaft genau an jene gemiedene Gesellschaft verstand), aber eines Tages doch zu einem von der Bezirksleitung arrangierten abendlichen Umtrunk einfand. Der Anlaß ist dem VdZ entfallen, oder kannte er ihn schon damals nicht einmal, denn er war offenbar so unwesentlich, daß er keiner Erinnerung wert war. 

Selbstverständlich war der Bezirksvorsteher - dem Range, der Stellung, der Befugnis nach einem Bürgermeister in einem beliebigen sonstigen Ort in Österreich gleichwertig - dabei. Denn wer läßt schon solche Gelegenheiten aus, sich dem zukünftigen Wähler (und Demokratie nach heutiger Praxis heißt praktisch immer im Zustande einer Vorwahl zu sein) als leutselig und sympathisch zu präsentieren. Was meist als "Mann wie Du und ich" interpretiert wird. Übrigens auch das ein schwerer Fehler, ja in Wahrheit eine Lüge, die niemandem verborgen bleibt, niemandem, schon gar nicht dem potentiellen Wähler.

Und vor allem als jemand, den jeder Bürger in seinen Anliegen ansprechen darf und sogar soll (angeblich), um dann zu beweisen, wie tatkräftig der Mann doch sein könne. Wie sehr er sich für die Sorgen und Nöte der von ihm regierten Menschen interessiere, wie sehr sie ihm ein Anliegen seien.

Dieses "ich tue etwas für die Leute" ist ja überhaupt das Mantra, unter dem jeder antritt, der ein Amt per Abstimmung anstrebt, es ist DAS Kriterium. So sehen es offenbar die Kandidaten, so sehen es noch mehr die Wahlstrategen und Werbeagenturen: Gewählt wird, wer am meisten verspricht, daß sich für den einzelnen Wähler die Stimmabgabe zähl- und meßbar rechnet. Weil er etwas für einen tut. Also ist jeder Kontakt auch bereits Gewählter (in der perennierenden Hoffnung, wiedergewählt zu werden) zu ihren Wählern oder Hoffentlich-Wählern ein permanentes Versprechen: Ich tue etwas für Dich, ich tue etwas für jeden.

Unser Indianer mußte genau dieses Versprechen im Kopfe gehabt haben, und er mußte daran glauben, als er sich nicht nur entschlossen hatte, diese abendliche Veranstaltung zu besuchen, sondern sich immer näher an den Vater der Gemeinde durch die dicht stehenden Menschen durch- und an besagten Mann heranarbeitete. Um ihm endlich gegenüberzustehen. 

Er baute sich auf, und blickte dem bald verlegen wirkenden Gemeindevorsteher fest in die Augen. Wohl so, wie es Winnetou selbst gemacht hätte, das wußte ja jeder, der die Karl May-Verfilmungen kennt, und damals kannte die sicher jeder Mann (der einmal Bub gewesen war).

Herr Bichlowetz, hub er mit fester Stimme an zu sprechen, darf ich Sie in einer wichtigen Angelegenheit etwas fragen?
Der Angesprochene faßte sich wieder, räusperte sich, und legte dem Indianer die Hand auf seine Schulter. Na selbstverständlich, stieß er nun aus. Wo drückt der Schuh?
Herr Bichlowetz, der Indianer wiederholte die Anrede, wohl um den Nachdruck zu erhöhen, mit dem er sein Anliegen präsentieren wollte. Ich habe die Frage an Sie ...
Der Angesprochene neigte sein Haupt, als wollte er den Bürger noch väterlicher ermuntern, ihm seine Worte gewissermaßen ins Ohr zu träufeln, auf daß sie dort umso leichteren Zugang weil Abfluß nach unten, ins Herz, finden mochten. 
... habe die Frage an Sie ...
Ja, bitte, wo drückt der Schuh? Bichlowetz lächelte nun, denn auch die übrigen ihn Umstehenden zeigten ein überlegenes Schmunzeln.

... also: Warum tut die Gemeinde nichts für Indianer?!

Einen Augenblick war Stille. Der Gemeindevorsteher wirkte reichlich verblüfft. Seine Verdutztheit zeigte die Unterlippe, die ihm mitsamt dem Kinne so nach unten rutschte, als wollte es jenes noch überholen. Wer ihn kannte, der wußte was das hieß: Der Bürgermeister dachte nach.

Und mit Erfolg. Als hätte ihn die Erleuchtung gestreift, huschte ein Lichtstrahl durch sein Gesicht, und der zog auch Lippe und Kinn wieder nach oben. Mit einem Wort: Bichlowetz straffte sich. Dann hob er zu sprechen an.

Weil es hier keine Indianer gibt. 

Was das mit dem Demonstrieren von sagenhaften fünfzigtausend Wienern zu tun hat, die mitten in Wien ein Beendigen des Rassismus gegenüber Schwarzen verlangten, ist dem VdZ freilich jetzt entfallen. Das Einzelne hat das Allgemeine, Verbindende, die Idee sohin, gewiß erdrückt.
Na, dem Leser fällt es möglicherweise leichter, jenen Zusammenhang herzustellen, der den VdZ wohl bewogen haben mochte, beim Sehen des Einen die Erinnerung an jenes gehabt zu haben.

Übrigens, so nebenbei: In diesem dem VdZ zugetragenen Geschichtlein fehlte bemerkenswert jede Aussage, was mit dem Indianer dann geschehen sei. Vermutlich ist er auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Zumindest würde das einem Dschingacscook oder Winnetou entsprechen. 



*270620*