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Montag, 17. Februar 2020

Neugewichtung historischer Daten

Es ist eine kleine Sensation, die Vladimir Putin hier in einer Pressekonferenz vor zwei Monaten der Öffentlichkeit als Ergebnis der Nachforschungen eines russischen Historiker-Komitees vorstellt. Bei der er gleich ankündigt, in der nächsten Zeit neue, bisher unbekannte Dokumente zu veröffentlichen, die eine neue Deutung des Weges Europas zum Zweiten Weltkrieg notwendig machen.

Die immer noch bestehende Weigerung westlicher Staaten ihre Archive zu öffnen, hat nämlich einen konkreten Grund: Man will die direkte Mitschuld am Zweiten Weltkrieg vertuschen. Man will vertuschen, was 1938 in München wirklich vereinbart, aber nie enthüllt wurde. Nun ist es durch Dokumentenfunde definitiv enthüllt: Chamberlain hat (mit Zustimmung Frankreichs die einige Monate später eingeholt wurde) der Aufteilung der Tschechoslowakei zwischen Deutschland, Polen und Ungarn zugestimmt. Das war bisher unbekannt, ist aber nun eindeutig belegt. Hitler hat ja sogar öffentlich gesagt, daß es nicht so leicht war, England und Frankreich zu dieser (geheimen) Passage im Münchner Abkommen 1938 zu bewegen. Die sich eindeutig nur gegen einen richtete: Gegen die Sowjetunion.

Das war deshalb bedeutend, weil dieser Zustimmung eine Zusage Polens zugrunde lag, einer allfälligen Intervention der Sowjetunion zugunsten der Tschechei nicht zuzustimmen, und eine Passage russischer Truppen mit Militärgewalt zu verhindern. England und Frankreich wollten eben den Einfluß der Sowjetunion aus Europa zurückdrängen. Rußland aber war das einzige Land, das sich für die Tschechoslowakei stark gemacht hatte.

Dem lag also ein Paradigmenwechsel zugrunde: Nicht der Faschismus war nun noch die Gefahr, die man sah, sondern der Bolschewismus. Es war allgemein bekannt, daß Hitler klare Absichten im Osten hatte. Er wollte Lebensraum, er wollte Quellen für Nahrungsmittel für Deutschland. Und damit traf sich Deutschland auffällig mit Polen, das ebenfalls von einem Großpolen träumte, wie es zu Beginn der Neuzeit bestanden hatte, und von "Meer zu Meer", vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer, reichte. Es war auch allen europäischen Führern bekannt, und Hitler machte nie einen Hehl daraus, daß Deutschland aggressive Absichten im Osten hatte. Der "Kriegsgrund Danzig" war vorgeschoben, Hitler hat das offen einbekannt.

Einzig Churchill erkannte bereits früh, daß mit dem Münchner Abkommen die Büchse der Pandora geöffnet worden ist.

Die historische Linie ist dabei klar: Hitler hat sich mit zahlreichen Abkommen mit Frankreich, England UND Polen den Rücken für seine wahren Pläne - der Griff nach dem Osten - freigeschaufelt. Und ein stillschweigendes Auflösen des Versailler Vertrages bewirkt, wo die westlichen Vertrags- bzw. Diktatspartner mit eben diesen Abkommen selber klar gegen die Versailler Bestimmungen verstoßen hat. Noch 1935 hat Hitler mit Piłsudski in völliger Eintracht verhandelt, auch was das Ziel, die Juden aus Europa zu entfernen anbelangt. Hitlers Vorschläge, die Juden nach Afrika auszusiedeln, fand in Polen herzhafte Zustimmung. Das auch in seiner anti-bolschewistischen Haltung mit Hitler übereinstimmte.

Eine Wende (Polens) trat erst nach dem Angriff am 1. September 1939 ein, wo die polnische Armee angewiesen wurde, sowjetischen Truppen keinen Widerstand zu leisten. Aber da war es bereits zu spät. Deutschland lag nun direkt der Sowjetunion gegenüber. Die Hitler mit dem Ribbentrop-Molotow-Abkommen getäuscht hatte.

Wobei Putin deutlich sagt, daß das Versailler Abkommen für Deutschland untragbar war. Man hat nach dem Ersten Weltkrieg Deutschland nicht einfach besiegt, man wollte es dauerhaft demütigen. Das hat zu einer klaren Haltung in Deutschland geführt, die das Aufkommen Hitlers völlig verständlich machte. Immerhin hat Deutschland die damals von den westlichen Alliierten (nicht Rußland!) auferlegte Reparations-Schuld erst 2010 endgültig getilgt. Die nach heutigem Wert gerechnet unfaßbare 100.000 Tonnen Gold betragen hat.

Man muß diese Erkenntnisse bzw. diese Interpretation der Geschichte mit neuer Schwerpunktsetzung - der Westen hat direkte Mitschuld am Zweiten Weltkrieg, weil er die Allianz gegen den Faschismus aufbrach; dem letztlich nur die Sowjetunion/Rußland entgegenstand, das schlichtweg im Stich, schon 1938 verraten gegen Deutschland alleine gelassen wurde - vor dem Hintergrund des im heurigen Jahr stattfindenden 75jährigen Jubiläums des Endes des Zweiten Weltkrieges, des für die Russen "Großen Vaterländischen Krieges", sehen. Der Rußland neueren Schätzungen nach bis zu fünfundzwanzig Millionen Menschenleben gekostet hat. 

Dieses Opfer - jeder fünfte damalige Sowjetbürger verlor 1941 bis 1945 sein Leben - will das Land und will Putin auch entsprechend gewürdigt sehen. Mit der durch diese aktuell enthüllten und zu enthüllenden Dokumente belegbaren Aussage, daß in den 1930er Jahren nur Rußland Hitler entgegen gestanden ist, und es Rußland war, das diesen Kampf heldenhaft geführt und gewonnen hatte. Der Westen hat vielmehr Rußland damals schändlich verraten. Die ganze Welt müßte deshalb Rußland dankbar sein, daß es als einziges Land dem Faschismus so klar entgegengetreten ist. Das diese Gefahr bereits früh erkannte, und als einziges Land seit dem spanischen Bürgerkrieg gegen den europäischen Faschismus gekämpft hat.




Hier zeigt sich natürlich zum einen Glanz und Elend einer Geschichtsforschung, die nur noch auf Dokumente baut. Die mittlerweile überhand nimmt, Neuinterpretation um Neuinterpretation auf den Markt wirft, und dies mit Dokumenten belegt. Zum anderen steht Putin in der Lage, einen riesigen Spagat vollziehen zu müssen, ein modernes, heutiges, gewissermaßen liberales oder sogar traditionszugewandtes Rußland mit der eigenen Geschichte, damit dem Kommunismus zu vereinigen.

Und er trifft damit auf die Linke in Europa, die ihn im Grunde bereitwillig aufnehmen müßte. Denn Putin stellt auch hier den Marxismus als das geringere Übel gegenüber dem Faschismus dar. Immer wieder ist zu beobachten, daß er ihn sogar rechtfertigt. Das wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Geschichtsinterpretationen von Leuten wie Alexander Dugin, die mehr Materialismus und Atheismus zur Basis haben als sie glauben oder eingestehen wollen. Religion wird nur deshalb so hoch geschätzt, weil sie "nützlich", ja für ein Volk essentiell ist. Das haben sie erkannt, deshalb spielen sie im Theater der Religion mit. 

Für uns ist aber wichtig, diese Koinzidenz im Auge zu behalten. Man kann Putin und Rußland zustimmen ob der Realpolitik, gewiß. Aber man muß das mit geschärften Sinnen tun. Als "Freund der Konservativen" kann man sie aber nicht einstufen. Dem Konservativismus kommt das heutige Rußland nur insofern entgegen, als es sich nicht scheut, Kontur - auch als "Feind" - zu zeigen. Und noch um die Interessenspflicht eines Staates weiß, also der allgemeinen Auflösungssehnsucht des Westens, die Kreuzesscheu, Wirklichkeitsflucht ist, entgegensteht. Das ist der wahre und einzige Grund, warum die europäischen Linken "gegen" Putin Front machen. Sie sind nicht "Linke", sie sind zu allererst Wirklichkeitsflüchter und -auflöser.