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Dienstag, 5. Januar 2010

Das kann nur ein Dichter

Überzeugend führt Rudolf Borchardt - von der Figurengenese über die historisch-philologische Analyse der Ilias und der Odyssee selbst - in "Epilegomena zu Homeros und Homer" den Erweis, daß die beiden Werke aus einer einzigen gestalterischen Hand stammen müssen. Nicht nur tut Borchardt dies, indem er die Deutungs- und Rezeptionsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert in ihren Methoden wie unfruchtbaren Sinnlosigkeiten, die dieses große Werk menschlicher Dichtkunst aus der menschlich-sinnlichen Rezeption in eine widerliche, bildungs-kleinbürgerliche Erbsenzählerei verschoben hat, in der Luft zerreißt und ihre Irrtümer aufweist, sondern er tut dies mit der eindeutigsten Schlußziehung, die denkbar ist, und von einer schlichten empirischen Tatsache ausgeht: dergemäß die Ilias ein erfahrbar geschlossenes Dichtwerk ist. Und weil es ein Dichtwerk ist, muß es von einem Dichter sein. Dies, so Borchardt, sei kein Werturteil, sondern eine Identitätsaussage.

Wer das beurteilen könne? Ganz sicher kein Philologe oder Sprachwissenschaftler oder Historiker. Das könne, sagt Borchardt, nur ein Dichter selbst beurteilen. Zumal der Unterschied zwischen einem guten, großen Dichter und einem schlechten, kleinen Dichter, unendlich viele Male kleiner ist, als der unüberwindliche und prinzipielle Unterschied zwischen einem Nicht-Dichter und dem allerschlechtesten Dichter.

Zwar sei dieser Standpunkt, der der inneren Gewißheit auch eines Goethes entspringt, nicht die bereits belegbare Wahrheitsthese, aber das Gegenteil eines Unsinns - und die Erklärung der Ilias und der Odyssee als Endprodukt historischer (kollektiver) Überarbeitung und Tradierung, oder als Assemblierung einzelner Lieder, sei nachweisbar ein solcher - ist der Gegen-Unsinn. Und die Wahrheit liegt auch nicht in der Mitte. Das tut sie nie, meint Borchardt. "In der Mitte liegt das Problem, nicht die Wahrheit."

Speziell die Odyssee "war [aus den Stuben der Buchgelehrten heraus, Anm.] ein Bergwerk für außerdichterische Sachbezüge, für Mythus, Religion, Lokal- und Völkergeschichte - Dokument für alles Erdenkliche, was sie selber nicht war - Quelle für tausenderlei. Der Quellenwert war vorausgesetzt, nicht erforscht und abgewogen. Die Poesie wurde ungefragt als Mythographie oder geradezu als versifizierter Mythus angesprochen."

Der Mythos aber, so Borchardt, "liegt hinter ihrer nackten literarischen Willkür so weit in schattenhaften Fernen wie der echte Artuskreis hinter Chaucer. Geschichtliche Raritäten sind in ihr dort angebracht, wo es lokaler Empfänglichkeit schmeichelte, sie durch den fremden Spielmann hervorgehoben zu hören. Denn auch das jüngere Epos ist immer noch, was das älteste und alte und das mittlere gewesen ist, Spielmannskunst, nicht Schwarte, Zettelkasten und Scharteke zum Blättern und Nachschlagen."




*050110*