Pindar reißt das Recht auf gültige, auf heilsbringende Weltdeutung wieder an sich, gegen den Rationalismus der Zeit, gegen dessen neue, aber unfruchtbare Schöße der Sinngebung.
So begreift man ihn, folgt man Borchardt's Schrift über dessen Gedichte, liest sie in Borchardt's Übertragung. Pindar hat sich damit - restaurativ, aus großer Kraft, aber auch: das letzte Mal - gegen die Trennung der poetischen Kunst als formale Sprachkunst an sich gewehrt, die sich in der aus Asien rückgewanderten Homerischen Symbolik über die ursprüngliche, aus den tiefsten Wurzeln des Menschseins, das mit der Landschaft, dem Boden verwurzelt, aus diesem, diesen deutend, erquollen ist, das religiöses (und in der Lyrik Liturgie gewordenes) Empfinden und Weltdeuten war. In der konsumableren, zum Buch (das im Ältesten Griechischen als "Sammlung" bezeichnet war: Sammlung der Lieder, der Poesie) "Literatur" aber bereits zur Unterhaltung abgesunken war.
"Es ist der höchste Anspruch, mit dem die Poesie je aufgetreten ist, seit sie in Urzeiten mit aller Vorstufe der Kultur verschwistert in der gleichen Knospe gelegen haben mag: heilige Enzyklopädie zu sein, von ihrer Basis aus das Weltall zu setzen und zu deuten; erst Dante und Goethe haben wieder wie der Thebaner das Recht auf die dichterische Summe als höchste Instanz der Zeit an sich gezogen, und sie setzen bereits unbewußt das Pathos des musischen Primates voraus, das sich aus Pindars hallenden Stuhlbesteigungsworten ätherhaft durch die ganze Antike verbreite hatte."
Für Pindar waren die Götter- und Heldengeschichten unmittelbar, reale Erfahrung - nicht symbolische Geschichten geworden, die in sich bereits ein Gemengelage an Deutung und Interesse der Zeit vermischten. Seine Lyrik war noch einmal der Versuch, nein: das reale Aufflackern, das Auflodern, einer Poesie der Verbindung von Gott und Mensch.
Historisch erfaßbar, verstehbar weil nachvollziehbar - und verifizierbar, weil wiederholt, vorhersagbar: "Der Sieg der Demokratie ist hier wie in Mittelalter und Neuzeit das Ende der Poesie. Was übrig bleibt, hier wie dort, ist Literatur, die der neuen Gesellschaft das Bild ihrer Misere liefert, und Romantik, die das der alten rekonstruiert, bis die Geschichte den Volkskehricht in die Sklavenecken neuer Herren räumt."
Borchardt faßt damit tief in die Wurzeln einer Liturgie, einer Religiosität - die den Begriff des Sakraments nicht kennt, aber mehr als ahnt: um ihn bereits weiß. Und das erst im Sakrament aber in sich diesen Anspruch auf Poesie, auf den Kreuzungspunkt von Ewigkeit und Geschichte, wie eine Erfüllung alter Menschheitssehnsucht real macht, aus dem bloß Aktualistischen des Erlebens des Moments aus dem Menschen selbst, aus seiner Brüchigkeit wie Flüchtigkeit, ins Wirkliche, Dinghafte heraushebt.
Pindar selbst wehrt sich entsprechend noch vehementest gegen Tendenzen, die diese Sakralität zur Sakramentalität heben wollen, die diese Grenzen (die, natürlich, gar nicht mehr wirklich zu ziehen ist, die nur noch in Sehnsucht und unerfülltem Drang verharrt) überschreiten wollen. "Weiter nicht - dünkle nie dich, Gott zu werden." Denn längst belegen unteritalische Schriftfunde, was da ausgelöst war: "Seliger, ein Gott geworden aus Sterblichem"; oder: "Du ist nun Gott, der du Mensch gewesen", "Du bist schon Gott: suche den Rückeingang zu den Göttern".
Dasselbe übrigens, zu dem die Katholische Liturgie seit vierzig Jahren implizit tendiert, zu dem sie (außerhalb der Ränder der Dogmatik allerdings) alle Tore aufgerissen hat, indem sie den Menschen selbst als Vollzieher der Sakramente bedeutsam machte, ihn faktisch damit vergöttlichte, worauf sich im nächsten Schritt das Sakrale auflöste ...
*120110*