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Donnerstag, 7. Januar 2010

Der vorgeworfene Maßstab der Wahrheit

"Die Resultate," sagt Gauß einmal auf eine Frage eines Studenten hin: "Die Resultate habe ich längst. Ich weiß nur noch nicht, auf welchem Wege ich zu ihnen gelange." In diesem Sinne führt Rudolf Borchardt auch das Maß des Geschichtlichen an: als natürliche Tatsache, analog dem vollkommenen Gehör des Musikers, dem Form- und Wirklichkeitsgefühl des Dichters. Jedes "Faktum" liefert nur noch die Nagelprobe. Der Geschichtssinn aber wohnt einem Betrachter inne - oder nicht. Und er ist mehr wahr, in jedem Falle, ja nur er IST Geschichte, als jede "Gegenprobe der langsam schleppenden Beweise" es nachzurechnen vermag.

"Wie dem sinnlichen Auge kraft seiner optischen Ergänzungsfähigkeit ein intermittierender Umriß, aus einer gegebenen Entfernung gesehen, zum fließenden so völlig wird, daß erst die Kontrolle es darüber belehrt, wieviel faktisches Nichts sein Sehen in das geforderte Etwas erhebt [...] genauso ist die von der geschichtlichen Phantasie geforderte und vom geschichtlichen Sinn regierte Durchströmung des Nichts [...] der auf Überlieferung oder Nichtüberlieferung eingeschworenen Kritik keine Rechenschaft schuldig." Diese (die Überlieferung) könne ja bestenfalls Einzelheiten verbürgen, für ein Ganzes ist sie immer unter allen Umständen als ein zufällig-mechanisches Zerstörungsresultat geistig wertlos, schließt nie ganz und schließt nichts aus.

Erst der Mensch adelt das Datum zur Wahrheit, freilich nicht ohne durchlaufene Selbstobjektivierung, ohne Distanz zu sich, und ohne Liebe zum Beschriebenen, in der er "es" will. Aus einem solcherart geläuterten Vorwurf der Sicht heraus ergibt sich erst ein wahres Geschichtsbild. Selbst Tagebuchnotizen, Briefe, Dokumente ... sie alle sind ja bereits Annahme (aus jener Zeit). "Jede Tatsache," sagt Goethe einmal, "ist im Grunde schon Theorie." Der Geschichte müsse man sich ganzheitlich zuwenden.

Geschichte(n) auf solche "Tatsachen" reduzieren zu wollen, ist ein Mißgriff, ist mißverstandene Wissenschaftlichkeit. Ist der Verzicht auf Gehalt, und streift die Sinnlosigkeit, fügt der Zerstörung (die jede Überlieferung ist) weitere hinzu.

Kein Geringerer als Theodor Mommsen sagt dazu einmal, daß die Geschichte von den römischen Kaisern nicht mehr wisse (trotz der vielen Zeugnisse!) als von den (völlig im "mythischen Dunkel" gebliebenen) römischen Königen. Es stehe, sagt Mommsen einmal, dem Dichter, nicht dem Historiker, zu, das Antlitz des Arminius zu erfinden.

Deshalb ist das wirkliche Kriterium zur Beurteilung der 'Ilias' kein historischer "Beleg", sondern die tief menschliche Wahrheit und Ganzheit der Figuren.

Aber auch die "(Arbeits-)Hypothese", zeigt Borchardt scharfsinnig, ist kein Zugang. Denn ihr fehlt das Entscheidende: die integrierende Sehkraft. Zumal die "nüchterne Objektivität", die im asketischen Verzicht auf die Macht der geistigen Wertung (Borchardt meint: aus Scheu vor ernster Arbeit) besteht, wähnt sich sogar des Schlüssels jeden Geschichtsverständnisses enthoben: der Ehrfurcht.

Das einzige haltbare Kriterium für die Zulässigkeit (sic! nur von einer solchen kann man überhaupt sprechen!) der geschichtlichen Betrachtung (und eine solche ist ... jedes Lesen eines literarischen Textes, der hier völlig ununterscheidbar von "Historie" ist, die Namensgleichheit ist keine zufällige) ist weder eine "richtige" noch eine "falsche" Richtigkeit. Ihre Richtigkeit liegt vielmehr "in sich selbst", als Evidenz eines sich selber gehörenden und in allen seinen Organen auf seinen eigenen absoluten Gehalt wie auf ein schlagendes Herz bezogenen Körpers, der dadurch, daß er mit sich selber im Einklange steht, sich der ungeheuren Forderung des höchsten Einklanges mit dem Geheimnis des Geschehens bis an die Grenzen des Menschen nähert.

Sie ist auch sofort erkennbar: als "Überzeugungskraft". Und hält dem fragmentarischen kleinkrämernden Krittel als besseres inneres Wissen die Sicherheit der Beglückung entgegen.

Und dieser innerste Sinn, der erst im "überraschend" konstatierten Vollzug erfahrbar wird, ist Charakter - keine Funktion, die erlernbar oder erzielbar wäre.

"Färbt dieser tiefliegende männliche Charakter die Bilder der absolut sehenden Geschichte als Schöpfungen einer Kunst so vorzugsweise ernst und unterscheidet sie sich durch ebenso tiefe Schattierungen der Lichter wie durch Verklärungen der 'Verlust von den selbstgefälligen Bespiegelungen auch des kritischen Zeitgeistes, so ist der Raum der Geschichte eben auch nicht der menschliche Geist an sich, - das ist das Reich der Philosophie -, sondern der menschliche Geist in seinem Bezuge auf die absolute Tragikzität des Lebens, in der Begeisterung seines Freiheitskampfes gegen die Notwendigkeit.

(Rudolf Borchardt in "Epilegomena zu Homeros und Homer")


Erst in dieser Haltung kann gefühlt werden, was gefühlt worden ist, kann gebangt werden, wo Bängnis in einer, in der Geschichte herrschte.

Und erst dort vermag Kunst, vermag jede Soteriologie, als Verbindung der Urkraft mit dem menschlichen Herz, ihre Aufgabe zu erfüllen - um nichts als sie selbst zu sein.




*070110*